Venezuela sieht schwarz. Während gleich zwei Präsidenten die Macht für sich beanspruchen, sehen die meisten Menschen keine Zukunft mehr in ihrem Land. SRF News hat mit einem Experten über Ausmass und Gründe der Krise gesprochen.
SRF News: Zwei Präsidenten, zwei Oberste Gerichte, zwei Parlamente im gleichen Land. Herr González, wie soll das weitergehen?
Jesús Rafael González: Einen schnellen Ausweg aus der Krise sehe ich nicht, und darunter leidet in erster Linie die Bevölkerung. Die politische Krise hat dazu beigetragen, dass das Bruttoinlandsprodukt von Venezuela in den letzten sieben Jahren abgestürzt ist, mit einer Reduktion um 74 Prozent. Das entspricht in etwa einem Verlust, wie ihn Syrien erlitten hat – nach jahrelangem Bürgerkrieg. Nur 60 von 194 Ländern erkennen Juan Guaidó als Interimspräsidenten an. Das bedeutet im Umkehrschluss: Die Mehrzahl der Länder der internationalen Gemeinschaft haben sich nicht klar für ihn und seine Politik ausgesprochen.
Hoffen die Venezolaner denn überhaupt noch auf Guaidó?
Vielleicht klingt es pessimistisch. Aber die Zahl der Auswanderer spricht für sich. Wir befinden uns in der grössten Migrationskrise, die der amerikanische Kontinent je erlebt hat. Bis Ende 2021 könnten insgesamt 8 Millionen Venezolaner das Land verlassen haben (Anm. d. Redaktion: Schätzungen der UNO gehen von derzeit 5.4 Millionen venezolanischen Migranten aus). Das ist ein Fiasko für Guaidó, es ist ein Fiasko für Maduro, es ist ein Fiasko für unser politisches System. Die Menschen erwarten nichts mehr von der Zukunft in ihrem Land. Sie fragen sich nicht mehr, ob sie sich irgendwann ein Haus kaufen können. Die Frage ist: Habe ich morgen genug Geld, um Essen für meine Kinder zu kaufen?
Wir befinden uns in der grössten Migrationskrise, die der amerikanische Kontinent je erlebt hat.
Was hat die Opposition falsch gemacht?
Die Opposition war vor allem im letzten Jahr in erster Linie damit beschäftigt, sich gegenseitig anzugreifen. Sie hat zudem die Verbindung zur Bevölkerung verloren. Was die Menschen brauchen, ist Hoffnung. Und um Hoffnung zu generieren, muss man Alternativen aufzeigen. Es genügt nicht zu sagen: «Maduro muss weg.»
Welchen Rat würden Sie Joe Biden geben?
Ohne Verhandlungen wird es keine Lösung geben. Aber es gilt erst einmal, zuzuhören und das Ausmass der Krise zu verstehen. Dafür müssen mehr Stimmen angehört werden als nur Regierung und Oppositionsvertreter. Es gilt auch, Akademiker anzuhören, NGOs, Führungspersonen der Zivilgesellschaft. Das wurde bisher vernachlässigt, und die Kraft der Opposition wurde überschätzt. Ihre Spaltung behindert ausserdem die Lösungsfindung. Es gab mindestens fünf Dialogversuche in den letzten Jahren. Der letzte wurde unter anderem von Norwegen und Spanien unterstützt. Aber dabei kam nichts heraus. Ein Grund dafür war, dass nicht alle Akteure am Tisch sassen.
Es müssen mehr Stimmen angehört werden als nur Regierung und Oppositionsvertreter.
Heisst das auch, dass die USA wieder mit Nicolás Maduro sprechen und wieder Botschafter ins Land schicken sollten?
Ich denke, das wird notwendig sein. Eine direkte Kommunikation ist nicht nur mit Guaidó und Maduro nötig, sondern auch mit dem Rest des Landes, das unter der derzeitigen Krise leidet. Neun von zehn Venezolanern leben in Armut, dort gilt es, hinzuhören und konkret zu sein in den Aktionen. Die Menschen haben keinen Strom, kein Essen, kein Gas. Die Zeit drängt. Ein Drittel der Venezolaner möchte das Land verlassen. Es gibt kein Gefühl der Zugehörigkeit mehr zu diesem Land, keine nationale Identität mehr. Solange wir die Komplexität der Lage und die Fehler der Vergangenheit nicht verstehen, wird jede Verhandlung schwierig sein.
Das Gespräch führten Karen Naundorf und Herminia Fernández.