Humanitäres Elend: Wieder und wieder warnen humanitäre Organisationen vor den schrecklichen Zuständen in Jemen. Erst gestern zeichnete das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, Unicef, ein erschütterndes Bild der Lage: 462‘000 Kinder litten an akuter Mangelernährung; den Bedarf an Nothilfe beziffert die UNO auf 2,1 Milliarden Dollar, doch nur 7 Prozent seien derzeit durch die Geberländer gedeckt. Hinschauen statt wegschauen, fordert Unicef: Denn die katastrophalen Auswirkungen des Konflikts würden aufgrund der zahlreichen Krisenherde auf der Welt zu wenig beachtet. Die Hilfsorganisation Oxfam wird deutlicher: Die Konfliktparteien und ihre Unterstützer würden das humanitäre Elend «weitgehend ignorieren».
Ein verwüstetes Land: Seit gut zwei Jahren kämpfen Truppen des sunnitischen Präsidenten Hadi mit saudischer Unterstützung gegen schiitische Huthi-Rebellen. Immer wieder explodieren Bomben, Raketen und Granaten in Wohngebieten. Jens Heibach, Jemen-Experte vom Hamburger Giga-Forschungsinstitut, beschreibt ein Land in Trümmern: Laut aktuellen Berichten seien rund 400‘000 Wohnungen und Häuser sowie mehrere Hundert Krankenhäuser zerstört worden, dazu zahlreiche Hauptverkehrsadern und Häfen. «Grundsätzlich müssen aber allen Kriegsparteien Verstösse gegen humanitäres Völkerrecht vorgeworfen werden», so Heibach. Denn auch das Sündenregister der Huthi sei lang, etwa die Rekrutierung von Kindersoldaten oder unrechtmässige Inhaftierung von Oppositionellen und Journalisten.
Eine blutige Patt-Situation: Trotz der militärischen und technologischen Übermacht der saudisch geführten Militärkoalition ist kein Ende des Kriegs in Sicht: «Es herrscht Stagnation an allen Fronten», sagt Heibach. Denn trotz ihrer unterlegenen Feuerkraft könnten sich die kampferprobten Huthi-Rebellen in dem schwierigen Terrain behaupten. Auch, weil sie sich als Schutzmacht gegenüber ausländischen Aggressoren darstellen könnten – und damit weiter auf Unterstützung aus der Bevölkerung zählen können. Zudem seien die Huthi mit einem Teil des jemenitischen Militärs verbündet, das nach wie vor loyal zum ehemaligen Präsidenten Ali Abdullah Saleh stehe. Ein Gleichgewicht des Schreckens.
Nadelöhr des Welthandels: Der Jemen befindet sich geographisch an der Peripherie der arabischen Welt, hat aber grosse Bedeutung: Denn das mausarme Land liegt am «Tor der Tränen» (Bab al-Mandab), der Meerenge, über den ein beträchtlicher Teil des Welthandels abgewickelt wird. Die 27 Kilometer breite Meeresstrasse zwischen Jemen und Dschibuti verbindet das Rote Meer mit dem Golf von Aden und dem Indischen Ozean. «Eine Schliessung der Meerenge hätte enorme Folgen – alleine die ägyptische Wirtschaft hängt mit jährlich bis zu fünf Milliarden Dollar von den Einnahmen vom Suez-Kanal ab», sagt Heibach. Die Befürchtungen der internationalen Gemeinschaft würden durch Berichte genährt, wonach es vermehrt zu Angriffen auf Handelsschiffe komme.
Spielball der Gross- und Regionalmächte: Manche Beobachter sprechen von einem Stellvertreterkrieg zwischen Saudi-Arabien und dem Iran, der auch von den USA befeuert werde. «Es gibt Stimmen aus dem Pentagon, die den Iran im Jemen konfrontieren wollen. Sie plädieren für eine Ausweitung der Waffenexporte an Saudi-Arabien», sagt Heibach. Kritiker im Weissen Haus hegten allerdings die Befürchtung, dass die Waffen in die Hände von Terroristen gelangen könnten. Die iranische Verwicklung in den Krieg in Jemen ist indes unklar: Eine von der UNO eingesetzte Expertengruppe sei zuletzt zum Schluss gekommen, so Heibach, dass sich iranische Waffenlieferungen «in grossem Umfang» an die Huthi nicht belegen liessen.
Rückzugsort für den Terror: Die Befürchtung, dass US-Waffen in die Hände dschihadistischer Gruppierungen gelangen könnten, ist begründet: «Al Kaida auf der Arabischen Halbinsel ist so stark wie nie zuvor», sagt der Jemen-Experte. Regelmässig verübt die Terrororganisation verheerende Anschläge im Land und überfällt aus ihren Rückzugsgebieten ganze Städte. Nun könnte der Jemen gar zur neuen Brutstätte des internationalen Terrors werden, wie Heibach sagt. Denn wie in Libyen zieht auf der gescheiterte Staat an der arabischen Halbinsel Terroristen an: «Der IS ist in Irak und Syrien auf dem Rückzug und sieht sich nach einer neuen Heimat um – es gibt Anzeichen dafür, dass das der Jemen werden soll», so Heibach.