Kompetent, präzise, selten lustig: So kennen die Britinnen und Briten Keir Starmer. So nahm er als Oppositionsführer Woche für Woche die letzten drei Premierminister im Unterhaus in die Mangel.
Als Staatsanwalt habe er Richter und Geschworene mit Argumenten überzeugen müssen und nicht mit lustigen Anekdoten, liess er einmal verlauten. In den vergangenen Wochen hiess es: «Ich kandidiere als Premierminister, nicht als Zirkusdirektor.»
Eine unbekannte Vergangenheit
Glaubwürdigkeit ist nicht sein Problem. Jedoch haben viele Britinnen und Briten gemäss einer Umfrage offenbar keine Ahnung, wer der Mann ist, der von nun an in Downing Street die Fäden zieht.
Zwar erwähnt er auf Drängen seiner Berater bei jedem Auftritt verlässlich den Beruf seines Vaters. Von den Orkney-Inseln bis nach Dover wissen mittlerweile alle, dass sein Vater Werkzeugmacher war. Allein bei der Erwähnung des Worts «Werkzeugmacher» bricht das Publikum in Gelächter aus.
Starmer spreche nicht gern über sich, sagt Tom Baldwin. Der Journalist ist selbst Mitglied der Labour-Partei und hat eine Biografie über Starmer geschrieben.
Ritterschlag von der Königin
Der neue Premierminister kommt aus einfachen Verhältnissen. Er ist mit zwei Geschwistern in der englischen Provinz aufgewachsen und war der Erste, der eine Universität besuchte. Starmer wurde Menschenrechtsanwalt. Neben seiner Tätigkeit in einer Kanzlei reiste er regelmässig nach Uganda, Malawi oder in den Kongo, wo er unentgeltlich Menschen verteidigte, denen die Todesstrafe drohte.
Im Alter von 46 Jahren wurde er Direktor der britischen Strafverfolgungsbehörden. Diese führte er so erfolgreich, dass er fünf Jahre später von der Queen für seine Verdienste geadelt wurde.
Er erzählte Baldwin, wie seine Eltern extra für die Adelung aus der Provinz anreisten: «Mein Vater hielt mit seinem alten, ramponierten Volvo-Kombi vor dem Haupttor des Buckingham Palace.» Auf dem Beifahrersitz habe seine Mutter gesessen, im Heck lag ihr Rollstuhl und auf dem Rücksitz ihre alte Dogge Tiffy. «Sie dachten, es wäre traurig, wenn der Hund diesen Tag nicht miterleben dürfte. Mein Vater kurbelte die Scheibe runter und sagte der Wache: ‹Wir sind hier, weil Keir heute zum Ritter geschlagen wird›.»
Sir Keir Starmer hat den Aufstieg geschafft, aber seine Wurzeln nie vergessen. Noch heute spielt er gemäss Baldwin am Samstag regelmässig mit seinen Jugendfreunden Fussball und ist ein grosser Arsenal-Fan.
Herkulesaufgabe für den Mann der Regeln
Weniger harmonisch klingt die Kritik an Starmer, die auch in den vergangenen Wochen vermehrt zu hören war: Er sei ein Opportunist, eine Windfahne. Erwähnt wird immer wieder, dass Starmer einst gegen den Brexit war, später ein zweites Referendum wollte und heute das B-Wort möglichst vermeidet.
Windfahne sei das falsche Bild, sagt Baldwin: Strassen würden auch nicht schnurgerade verlaufen. «Sie ziehen in grossen und kleinen Kurven durchs Land, um möglichst hindernisfrei das Ziel zu erreichen.»
Unbeugsam und geradlinig sei Starmer hingegen, was Regeln und Gesetze betreffe: «Er ist ein Mann der Regeln.» Das wird die Wählerinnen und Wähler nach den Chaos-Jahren der jüngsten Vergangenheit freuen. Doch dies wird nicht reichen. Er muss ein beschädigtes Land sanieren, von dem viele glauben, dass nichts mehr funktioniert. Er wird keine 100 Tage haben, um zu zeigen, wie er das machen will.