Schon seit geraumer Zeit verlagert sich die Flüchtlingsroute vom Mittelmeer auf den Atlantik – und mit ihr das Sterben. Im vergangenen Jahr sind rund 47'000 Menschen von Westafrika auf die Kanarischen Inseln gelangt, so viele wie nie zuvor. Fast 10'000 Menschen haben die Flucht über den Atlantik nicht überlebt, berichten Hilfsorganisationen.
Ausserhalb von Spanien wird das humanitäre Drama, das sich tagtäglich abspielt, bisher nur wenig wahrgenommen. Die Aufnahme eines neugeborenen Babys in einem Schlauchboot, das auf dem Bauch seiner erschöpften Mutter liegt, wühlt nun aber viele Menschen auf.
Die spanische Küstenwache war am 6. Januar auf das Migrantenboot gestossen, das im Atlantik trieb. «Es war das schönste Geschenk des Dreikönigstags, dass wir das Baby und seine Mutter retten konnten», sagte der Kommandant der Rettungsflotte.
Im vergangenen Jahr entfielen laut dem spanischen Innenministerium rund drei Viertel der irregulären Migration nach Spanien auf die Kanaren. Der Seeweg von Westafrika auf das spanische Atlantikarchipel gilt als eine der gefährlichsten Fluchtrouten der Welt.
Dass die Kanaren Hauptdestination der irregulären Migration in Spanien sind, während gleichzeitig die Zahlen auf der westlichen Mittelmeerroute deutlich abnehmen, ist ein relativ neues Phänomen, das vor circa fünf Jahren begann. Davor lag die Zahl der Ankünfte dort meist bei deutlich unter 1000 pro Jahr.
Tödliche Atlantikroute
«Die Menschen nehmen die gefährliche Route zum einen aus purer Verzweiflung auf sich», berichtet die freie Journalistin Julia Macher aus Barcelona. «Der Hauptgrund ist aber, dass die Mittelmeerroute sehr viel strenger kontrolliert wird, teilweise gibt es hier gar kein Durchkommen mehr.»
Schlepper suchten also nach anderen Routen, um Menschen nach Europa zu bringen: weniger nach Italien, dafür mehr nach Spanien – und dabei vor allem auf die Kanaren. Über dem offenen Meer geraten die kaum seetauglichen Boote immer wieder in Unwetter und Stürme oder werden von starken Strömungen weit abgetrieben.
Horrorberichte wie derjenige des Migrantenbootes, das in Südamerika strandete, führen zwar jeweils zu Betroffenheit. Und auch das Bild des geretteten Babys vor den Kanaren wird tausendfach in den sozialen Medien geteilt und berührt viele Menschen. «Die ganz grosse Erschütterung lösen solche Berichte aber nicht aus», relativiert Macher.
In Spanien wie auch andernorts in Europa sei man sich solche dramatischen Bilder inzwischen ganz einfach gewohnt. Daran, dass das Sterben der Flüchtlinge und Migranten vor den Toren Europas hingenommen wird, ändern also weder Statistiken noch dramatische Einzelschicksale etwas.