Allein in diesem Januar sind über 7000 Menschen aus Senegal per Boot auf den Kanarischen Inseln angekommen. Im Vergleich zum Vorjahr ein Anstieg von 1000 Prozent. Vor allem junge Männer wollen weg, auch wenn allein letztes Jahr über 6000 Menschen die Überfahrt nicht überlebten.
In Saint-Louis, der zweitgrössten Stadt des Landes, lässt sich beobachten, was die Menschen zur Migration treibt.
Das Meer als Tor nach Europa
Frühmorgens in Saint-Louis: Die bunten Pirogen, wie die Fischerboote heissen, die halbverfallenen Häuser, aus denen Ziegen auftauchen, und die Menschen in ihren langen Gewändern scheinen wie gemalt. Verewigt auf einem pastellfarbenen Gemälde, mit einem Himmel, der selten satt blau, sondern meist gelblich ist vom Saharasand.
Das Leben für die Menschen, die hier mit Fischen ihr Einkommen verdienen, ist allerdings alles andere als pittoresk. Wie schwierig alles geworden ist und warum so viele einfach nur fortwollen, erklärt uns Moussa Cissé, ein Fischer, der schon viermal versuchte, über den Atlantik nach Spanien zu fahren.
Sein Gesicht ist gegerbt von tausenden Tagen auf dem rauen Meer, seine Arme, mit denen er die Piroge durch die erste Wellenbank stösst, sind muskulös. «Fischen, das ist alles, was ich kann, ich habe es von meinem Vater gelernt und er von seinem Vater. Saint-Louis ist Senegals Hauptstadt der Fischerei, alles dreht sich um das Fischen», sagt er später, während er anscheinend mühelos auf der Bank im stark schaukelnden Boot balanciert.
Der Haupttreiber für die heutige Migration ist die Hoffnungslosigkeit der Jugend.
Moussa Cissé kennt das Meer und seine Launen, er navigiert mithilfe der Sterne und dennoch hat er es viermal nicht geschafft, mit einem Boot, etwas grösser als dieses, nach Spanien zu gelangen. «Einmal haben wir uns in einem Sturm verirrt, ein andermal fiel der Motor aus. Dann sind Leute beinahe verhungert, weil sie zu wenig Proviant mitgenommen haben.»
Diese Reisen seien unglaublich hart und hinterliessen tiefe Spuren. Passagiere, die die Nerven verlieren und das Boot ins Schwanken bringen, würden kurzerhand über Bord geworfen. Er habe einige Tote im Meer gesehen, meint er, während er die hohen Wellen rund um das Boot beobachtet.
Eine entzogene Lebensgrundlage
Dennoch will er es nochmals probieren. Der Grund dafür ist nun, beinahe zehn Kilometer von der Küste entfernt, erkennbar. Es ist die Plattform des britischen Energiegiganten BP, der hier 2017 Gas tief unter dem Meeresboden entdeckte. Gas, das in flüssiger Form nächstes Jahr unter anderem auch nach Europa exportiert werden soll.
Das Gas, das im übrigen Senegal Hoffnungen weckt, macht die Fischer in Saint-Louis wütend. «Diese Plattform wurde ausgerechnet auf dem fischreichsten Riff installiert, niemand darf näher als 600 Meter fischen, sonst bekommt man es mit der Küstenwache zu tun, die unsere Boote zerstört und uns wegjagt.» Die Plattform und die kommerziellen Fischerboote weiter draussen im Meer haben zu einem drastischen Rückgang der Fischbestände geführt. Gerade die Jungen hätten genug und wollten weg.
Wegwerfboote für eine einfache Fahrt gebaut
Eine hohe Nachfrage bestätigt ein lokaler Schmuggler, der unter Wahrung seiner Anonymität beschreibt, wie das Geschäft mit den Atlantiküberquerungen funktioniert. Er selbst arbeitete zuvor in einer Firma für Plastikrecycling, doch musste diese schliessen. Da beschloss er auch, per Boot zu emigrieren, doch schaffte es nicht bis nach Spanien.
Seither nutzt er sein Insiderwissen, um für die Drahtzieher Leute für die geplanten Überfahrten zu rekrutieren und sie zu überreden, die 600 Franken im Voraus zu bezahlen. «Jedes Boot wird extra für eine Überfahrt gebaut, es ist sozusagen ein Einwegboot, rund 30 Meter lang, für mindestens hundert Passagiere, damit sich das ganze Geschäft lohnt.»
Jede Woche würden Schiffe losfahren, doch der Zeitpunkt der Abfahrt würde erst am entsprechenden Tag bekannt gegeben. Es sei ein riskantes Geschäft, er kenne seine Bosse nur per Telefon und letztlich basiere alles auf Vertrauen. Er selbst besteche niemanden, doch sei er sicher, dass gerade die senegalesische Marine, die wieder vermehrt patrouilliere, Schmiergelder erhalten würde. Es lohne sich zurzeit für alle, er selbst verdiene nun umgerechnet 6000 Franken im Monat, ein fürstlicher Lohn in Senegal.
Statt durch die Sahara über den Atlantik
Saint-Louis ist ein idealer Ort für die Migration über den Atlantik. Dank der langen senegalesischen Küste kennen viele Menschen das Meer. Es zu überqueren, ist für sie nichts Neues. Das Knowhow für den Schiffsbau existiert ebenfalls. Sie werden manuell gezimmert, wie seit hunderten von Jahren. Modern sind einzig der Motor und Glasfaserabdichtungen.
Die erste Auswanderungswelle per Atlantik oder wie man es hier «die maritime Migration» nennt, fand 2006 statt. Die verschärften Kontrollen entlang der Küste dämmten diese erstmal ein. Das entmutigte die Menschen jedoch nicht. Sie suchten sich einfach einen neuen Weg und machten sich auf den monatelangen Treck Richtung Sahara und Libyen auf.
Niemand wagt sich auf diese Reise, ohne zuvor einen lokalen Zauberer zu besuchen. Doch davon redet niemand.
Seit in Libyen viele gefoltert oder erpresst werden, gilt diese Route nicht mehr sicher. Wer die Odyssee überlebte, kehrte nach Senegal zurück. Doch wer einmal gehen will, sucht immer nach neuen Optionen. Darum versuchen es nun wieder Tausende über den Atlantik.
Hoffnungslosigkeit in einer akut gefährdeten Demokratie
Professor Abdoulaye Niang ist 71 Jahre alt und studiert die senegalesische Migration seit mehr als zwanzig Jahren. Bereits 2006, bei der ersten Emigrationswelle, organisierte er eine nationale Konferenz zum Thema. Die aktuellen Zahlen erstaunen ihn nicht. «Der Haupttreiber für die heutige Migration ist die Hoffnungslosigkeit der Jugend. Sie macht ja die grosse Mehrheit in der Bevölkerung aus und sie sieht in Senegal absolut keine Zukunft für sich.»
Darum könne niemand sie bremsen. Europa mit all seinen Abschreckungsmassnahmen schon gar nicht. «Die Jungen sind heutzutage informiert,» sagt Migrationsforscher Niang. «Sie wissen, was eine Demokratie ist, sie sehen, wie eine Gesellschaft ernst genommen werden kann. Für sie bedeutet Europa die Freiheit und Senegal ein Gefängnis, wo man sich politisch nicht äussern darf und wirtschaftlich auf keinen grünen Zweig kommt, egal, wie hart man arbeitet.»
Die Regierung von Macky Sall habe die Demokratie kontinuierlich untergraben und seit der Inhaftierung von Ousmane Sonko, dem unter der jungen Generation populären Führer der Oppositionspartei «Pastef», sei jegliche Hoffnung abhandengekommen.
Diese Gefühle würden in den sozialen Medien befeuert. Auf senegalesischen Youtube-Kanälen zirkulieren zahlreiche Videos, die junge Männer während der Überfahrt aufgenommen haben. Darauf scheint die Sonne, es wird ein Sandwich verzehrt und das Siegeszeichen in die Kamera gemacht. Man hat den Eindruck, die Männer seien Touristen unterwegs zum Schnorcheln. Alles wirkt heiter und munter.
«Das stimmt natürlich nicht. Sie alle haben Angst. Grosse Angst», erklärt Abdoulaye Niang. Doch Angst zu zeigen, ginge für einen Mann nicht. Wie sie Angst haben, offenbaren laut Niang die Toten, die an den Strand gespült werden. «Sie sind mit Grigris, den traditionellen Amuletten gegen das böse Auge, übersät. Niemand wagt sich auf diese Reise, ohne zuvor einen lokalen Zauberer zu besuchen. Doch davon redet niemand.»
Trauer und Verständnis vermischen sich
Dass die Jugend nicht mehr in Senegal bleiben will, versteht Fatou Diagne, die Mutter von Fischer Moussa Cissé, gut. Sie ist über 70 Jahre alt und rackert sich als Fischverkäuferin bis spät in die Nacht ab, um ihre Familie durchzubringen. Sie teilt sich mit 21 Menschen, einigen Ziegen und Katzen einen Hinterhof. In ihrem eigenen Zimmer, auf ihrem imposanten Bett thronend, erklärt sie, dass nun auch ihr jüngster Sohn gehen wolle, obwohl einer seiner Brüder im Meer verschollen sei.
«Für uns Frauen ist das natürlich enorm hart. Wer will schon seinen Mann oder seinen Sohn verlieren? Keine von uns. Doch verstehen wir sie auch. Sie wollen ja nur das Beste für die Familie. Die ganze Migration ist wirklich keine gute Sache, aber sie ist eben auch notwendig.»