Auf dem Papier und gemessen an der militärischen Hardware ist die Nato mit Abstand die mächtigste Militärallianz der Welt. In Afghanistan haben die Nato-Staaten in den vergangenen zwei Jahrzehnten auch die Zusammenarbeit praktiziert. Allerdings in einer speziellen Situation, fernab vom klassischen Kernauftrag, der Verteidigung Europas.
Doch mit der russischen Annexion der Krim 2014 rückte genau dieser Auftrag wieder in den Vordergrund. Und da hat das Bündnis etliche Schwächen. Dazu gehören mangelnde Fähigkeiten, grosse Truppenteile rasch nach Osteuropa zu bringen. Oder mangelnde Lufttransportkapazitäten. Und zu lange Reaktionszeiten. Das weckt Zweifel daran, ob die Nato imstande wäre, im Ernstfall etwa seine drei baltischen Mitglieder Estland, Lettland und Litauen zu schützen. Oder sie gar nach einem russischen Einmarsch zurückzuerobern.
«Kriegsmanöver» und Provokation
Genau um ein solches Szenario geht es auch in «Defender 21». Nato-Oberbefehlshaber, US-General Tod Wolters spricht vom gewaltsamen Eindringen aller Waffengattungen in von feindlichen Kräften beherrschtes Gebiet. Wie immer werden Manöver als defensiv bezeichnet. Doch selbstverständlich beinhalten sie häufig zumindest Gegenoffensiven. Eine solche hat man, so wiederum General Wolters, in diesem Umfang seit den 1940er-Jahren nicht mehr praktiziert. Damit erinnert er an die Landung der Alliierten in der Normandie oder in Sizilien zur Vertreibung der Nazis.
Moskau bezeichnet die Nato-Manöver als Provokation. Gar noch viel schärfer reagieren russlandfreundliche und pazifistische Kreise im Westen, nicht zuletzt in Deutschland. Dort ist von «Kriegsmanövern» die Rede. Spricht man indes von Provokation, dann müsste der jüngste russische Truppenzusammenzug an der Grenze zur Ukraine und der Flottenaufmarsch im Schwarzen Meer zumindest ebenfalls als solche gelten. Trotz Moskaus Ankündigung, seine Truppen wieder in die Kasernen zu beordern, sind die meisten weiterhin unweit der Ukraine. So heisst es zumindest in Washington, Kiew und Brüssel.
Das Problem: Obschon die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) von allen ihren Mitgliedstaaten volle Transparenz über Militärmanöver und Truppenverschiebungen verlangt, hat Russland das im Zusammenhang mit den jüngsten Truppenbewegungen ignoriert. Das schürt Misstrauen. Die Nato-Manöver hingegen sind seit langem angekündigt; Beobachter aus allen OSZE-Ländern, also auch Russen, sind eingeladen.
Immenses gegenseitiges Misstrauen
In Russland hat man den Verlust der gesamten Ukraine, also nicht nur der inzwischen «heimgeholten» Krim, nie verwunden. Deshalb gilt jede Unterstützung der Ukraine durch die Nato als skandalös. Und sei sie noch so zaghaft.
Tatsache ist: Selbst wenn bei «Defender 21» auch eine Landung in feindlich besetztem Gebiet geübt wird, so lässt sich daraus schwerlich der Plan konstruieren, das westliche Bündnis bereite sich vor, die Krim für die Ukraine zurückzuerobern. Ein derartiges offensives Vorgehen zugunsten eines Nichtmitgliedlandes ist in den Nato-Ländern, nicht zuletzt in den USA, politisch absolut chancenlos.
Entsprechend dürften sowohl ukrainische Hoffnungen in die aktuellen Nato-Manöver als auch russische Befürchtungen viel zu gross sein. Wenn es der Nato gelingt, dank der Lehren aus der Grossübung ihr Territorium besser zu verteidigen, ist ihr Ziel schon erreicht. Und die Vorwürfe in beiden Richtungen? Sie gründen vor allem im aktuell immensen gegenseitigen Misstrauen.