In Hongkong protestieren derzeit Tausende gegen eine geplante Gesetzesänderung, die Auslieferungen an das chinesische Festland ermöglichen würde. SRF-Korrespondent Martin Aldrovandi befindet sich in Hongkongs Innenstadt und hat mit Demonstranten gesprochen.
SRF News: Wogegen protestieren die Menschen genau?
Martin Aldrovandi: Man hört immer mehr oder weniger dasselbe: Die Menschen haben Angst, dass sie oder Bekannte irgendwann auch ausgeliefert werden könnten. Sie haben Angst, weil es in China keinen Rechtsstaat gibt wie in Hongkong.
Man hat Angst, dass der Rechtsstaat in Hongkong langfristig ausgehöhlt wird.
Man glaubt auch der Regierungschefin Carrie Lam nicht, dass Sicherheitsvorkehrungen da sind, wenn dieses Gesetz verabschiedet wird. Man hat Angst, dass China das Gesetz für politische Zwecke ausnützen würde und der Rechtsstaat in Hongkong langfristig ausgehöhlt wird.
Bisher hat die chinafreundliche Führung sich durch die massiven Proteste nicht beeindrucken lassen. Nun kommt es zu einer Verschiebung der Debatte. Nützt der Druck von der Strasse also etwas?
Die meisten Demonstrantinnen und Demonstranten hier haben keine Hoffnung. Sie sind mehr oder weniger davon überzeugt, dass dieses Gesetz früher oder später verabschiedet wird. Aber man will nicht so schnell aufgeben. Man will der Hongkonger und der chinesischen Regierung zeigen, dass man damit nicht einverstanden ist. Die Hongkonger Regierung will das Gesetz am 20. Juni verabschieden.
Das Polizeiaufgebot wurde massiv aufgestockt. Wie gross ist die Angst, dass es zu weiteren gewalttätigen Auseinandersetzungen kommen könnte?
Diese Angst ist da. Es gab heute Morgen und gestern Nacht Auseinandersetzungen mit der Polizei. Leute haben sich darüber aufgeregt, dass die Polizei sie durchsucht. Sie sagen: Wir sind unschuldig und demonstrieren ja nur.
Noch hält sich die Polizei zurück, aber wir wissen nicht, wie lange.
Die christlichen Gruppen, die in Hongkong sehr wichtig sind, haben in der Nacht religiöse Lieder gesungen und Blumen verteilt in der Hoffnung, dass es nicht zu gewalttätigen Ausschreitungen kommt. Auch sie verurteilen das geplante Auslieferungsgesetz. Noch hält sich die Polizei zurück, aber wir wissen nicht, wie lange.
Die Gewerkschaften haben zu Streiks aufgerufen. Haben sich auch Geschäfte und Unternehmen daran beteiligt?
Mehrere Grossbanken in Hongkong haben ihren Mitarbeitern erlaubt, von zuhause zu arbeiten. Viele Leute nutzten auch ihre Mittagspause, um hier vorbeizukommen. Studentinnen, Lehrer sowie Angestellte von kleinen Geschäften streiken. Der Protest ist breit abgestützt: Von Rentnern bis zu Mittelschülern und Hausfrauen ist fast alles hier auf der Strasse.
Die pro-demokratische Bewegung in Hongkong kämpft seit Jahren für mehr demokratische Rechte auf der chinesischen Halbinsel. Geben die Proteste der Bewegung neuen Aufwind?
Viele Menschen, die jetzt hier sind, waren schon vor fünf Jahren da. Sie haben nicht unbedingt die Hoffnung, dass sich etwas ändert – die wochenlangen Proteste 2014 gingen zu Ende, ohne dass die Regierung nachgegeben hätte. Aber die vielen Regenschirme zeigen zumindest, dass die Leute bereit sind, lange auszuharren.
Das Gespräch führte Salvador Atasoy.