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Cancel Culture oder Kultur der Kontroversen-Vermeidung?
Aus Rendez-vous vom 18.10.2024. Bild: IMAGO / Ikon Images
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Meinungsäusserungsfreiheit «Cancel Culture»: Jetzt beklagen sich auch die Linken

Es sei kein gutes Zeichen, wenn politisch Rechte wie auch politisch Linke die freie Meinungsäusserung gefährdet sehen, sagt Historiker Caspar Hirschi.

Der Begriff macht seit ein paar Jahren die Runde: «Cancel Culture». Wurde er zuvor oft von der politisch Rechten verwendet und damit den Linken vorgeworfen, man werde mundtot gemacht, klagen nun auch diese, dass die Meinungs­äusserungs­freiheit beschnitten werde. Vor allem im Kontext des Nahostkonfliktes.

Ein aktuelles Beispiel ist eine Petition einer Gruppe von Menschenrechtsaktivisten und Juristinnen: Die freie Meinungsäusserung stehe unter Druck, schreiben sie in der Petition an Bundesrat, Hochschulen und Universitäten. Proteste und Veranstaltungen zur Situation in Gaza würden wiederholt unterbunden, lautet der Vorwurf.

Es war auch mal umgekehrt

Solche Vorwürfe, die eigene Meinung könne nicht frei geäussert werden, gab es in der Vergangenheit immer wieder, sagt Caspar Hirschi, Professor für Geschichte an der Universität St. Gallen. «In den 60er-Jahren waren es die Progressiven, die Linken, die ein Free-Speech-Movement in den USA gestartet haben und es waren die Konservativen, die dagegen waren. Also da war es schon mal umgekehrt.»

Die Situation jetzt – wenn beide Seiten die freie Meinungsäusserung gefährdet sehen – findet Hirschi schwierig. In den meisten Fällen findet er die Vorwürfe auch nicht berechtigt – und den Begriff «Cancel Culture» unpassend.

Zum Beispiel bei der Absage der Filmvorführung «Russians at War» am Zürich Film Festival, die kürzlich zu reden gab. Die ukrainische Community kritisierte, der Film werfe einen zu unkritischen Blick auf russische Soldaten. Daraufhin strich das Festival den Film aus dem Programm. Die Entscheidung, den Film nicht zu zeigen, könne man zwar durchaus kritisieren, findet Hirschi, aber: «Der Film wurde nicht aus der Welt geschafft. Er wurde in Venedig gezeigt, und der Film kann immer wieder gezeigt werden.»

Scheu vor Diskussionen nimmt zu

Statt von einer «Cancel Culture» würde Caspar Hirschi eher von einer «Kultur der Kontroversen-Vermeidung» sprechen.

Hirschi beobachtet nämlich, dass Hochschulen, Festivals und Veranstalter bei Anlässen und Debatten vorsichtiger geworden sind. Denn heute gebe es quasi zwei Öffentlichkeiten. Eine vor Ort bei Veranstaltungen und die digitale Öffentlichkeit, wo die Hitze der Debatte eine ganz andere sei.              

Frau mit Megafon und Kind mit Flagge bei Protest.
Legende: Eine Gruppe von Menschenrechtsaktivisten und Juristinnen wirft dem Bundesrat vor Proteste zur Situation in Gaza würden wiederholt unterbunden. KEYSTONE/Martial Trezzini

Mit dieser neuen Form der Öffentlichkeit umzugehen, tun sich Veranstalter schwer. Doch diese neue Scheu vor Kontroversen könne durchaus heikel sein – letztlich würden Debatten an Lebendigkeit einbüssen: «Ich habe das selber in den 90er und Nullerjahren an Universitäten erlebt. Damals wurde an Konferenzen viel heftiger gestritten. Und es wurde auch honoriert, wenn heftig diskutiert worden ist. Aber es blieb im Raum.»

Heftige Debatten im Netz – keine mehr vor Ort

Es sei paradox: Debatten im digitalen Raum werden sehr heftig ausgetragen – die Reaktion von Hochschulen und Festivals darauf sei, Kontroversen vor Ort möglichst zu vermeiden. Einfache Rezepte, wie damit umzugehen ist, sieht Caspar Hirschi nicht. Er empfiehlt, die beiden Öffentlichkeiten – also der digitale Raum und Veranstaltungen vor Ort – stärker voneinander zu unterscheiden.

Und letztlich wäre allen geraten – Hochschulen, Veranstaltern, Medien – sich wieder vermehrt an Diskussionen zu orientieren, die vor Ort bei Veranstaltungen mit persönlichen Begegnungen stattfinden – anstatt an den heftigen Auseinandersetzungen im Netz.

Rendez-vous, 18.10.2024, 12:30 Uhr

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