Ungeachtet der internationalen Kritik treibt die Türkei ihre Militäroffensive gegen die kurdische YPG-Miliz im Nordosten Syriens weiter voran. Aus Ankara heisst es nun, dass man mit Ras al-Ain bereits die erste Stadt eingenommen und die Kurden vertrieben habe. Die Kurden dementierten dies umgehend. Obwohl die Bereitschaft zum Widerstand bei den Kurden hoch ist, sei es aktuell nur eine Frage der Zeit, bis die Türkei ihre Ziele erreicht hat, meint NZZ-Journalistin Inga Rogg.
SRF News: Wie gross wäre der Verlust der Stadt Ras al-Ain für die Kurden?
Inga Rogg: Nicht allzu gross. Ras al-Ain ist mit ungefähr 30’000 Einwohnern eine kleinere Stadt und hat eine gemischte Bevölkerung. Für die Gegenseite wäre es aber gegenüber den Kurden ein Durchbruch in dieser westlichen Flanke.
Haben die Kurden gegen das türkische Militär überhaupt eine Chance?
Für die Kurden ist es sehr schwierig. Das türkische Militär hat eine Luftwaffe, ist eine modern ausgestattete Armee und hat gut ausgebildete Soldaten. Auf Dauer haben die Kurden ohne Luftunterstützung der USA keine Chance.
Wie wäre es mit Schützenhilfe anderer Kurden, zum Beispiel aus der Türkei oder dem Irak?
Theoretisch wäre das denkbar. Aber: Die Kurden aus der Türkei werden nicht über die Grenze kommen. Die PKK ist sehr viel weiter östlich im Nordirak ansässig, wo sie ihre Kämpfer braucht, und die Kurden im Irak werden kein Interesse daran haben, einen weiteren Krieg zu führen.
Die Kurden streben Autonomie an, sowohl die Türkei aber auch der syrische Machthaber Baschar al-Assad wollen das verhindern. Warum ist es dennoch möglich, dass die Kurden Hilfe bei Assad suchen?
Als diese Aufstände in Syrien begannen, haben die Kurden nicht wirklich den Konflikt mit dem Assad-Regime gesucht und sind offen für Verhandlungen.
Viele Minderheiten in der Region haben Angst vor der Türkei und vor den syrischen Hilfstruppen, die auf der Seite der Türkei kämpfen.
Insofern wäre das eine Möglichkeit, aber ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass Assad den Kurden zu Hilfe eilen wird, weil das einen militärischen Konflikt mit der Türkei bedeuten würde. Einen militärischen Konflikt, den das Regime gar nicht in der Lage wäre, führen zu können.
Welche Ziele verfolgt Assad im Norden Syriens?
Grundsätzlich will er das ganze Land unter seine Kontrolle bringen, und dazu zählen im Grunde genommen auch die kurdischen Gebiete. Bisher haben ihm aber die Kräfte gefehlt und es standen ihm die Amerikaner gegenüber. Diese sind nach wie vor in zahlreichen Gebieten dieser Region präsent.
Die Türkei scheint mit Ras al-Ain die erste Stadt bereits in Beschlag genommen zu haben. Die Stadt ist aber keine traditionell kurdische Stadt. Welche Herrscher sind den Leuten im Norden Syriens lieber, die Kurden oder die Türken?
Die kurdische Bevölkerung ist mehrheitlich gegen die Türkei eingestellt, viele Minderheiten in der Region haben Angst vor der Türkei und vor den syrischen Hilfstruppen, die auf der Seite der Türkei kämpfen. Diese haben nicht einen besonders guten Ruf, ganz im Gegenteil.
Wo wird es für die Türken am schwierigsten werden?
Sie werden versuchen, nach Osten und Süden vorzurücken. Dort werden die Kurden heftigen Widerstand leisten und es wird die Frage sein, inwiefern die Amerikaner dort zusehen werden. In diesen Gegenden befinden sich die IS- Gefängnisse und bisher wurden diese immer als rote Linie bezeichnet.
Haben die Kurden überhaupt noch Kapazitäten für heftigeren Widerstand?
Die Bereitschaft ist auf jeden Fall vorhanden, sie haben Zehntausende Kämpfer in ihren Reihen und können auf Unterstützung von grossen Teilen der Bevölkerung bauen.
Das Gespräch führte Roger Brändlin.