Die teilweise Zerstörung der Kathedrale von Notre-Dame in Paris ist ein schwerer Verlust. Der Mittelalterexperte Peter Jezler erklärt, warum.
SRF News: Was ist Ihnen durch den Kopf gegangen, als Sie die Bilder des Brands gesehen haben?
Peter Jezler: Als ich am frühen Abend die ersten Bilder gesehen habe, war mein einziger Gedanke, ob das Gewölbe halten wird. Erste Aufnahmen zeigen, dass Teile des Gewölbes zusammengebrochen sind, andere haben aber erstaunlicherweise gehalten. Man wird nun sehen, wie gross die Schäden sind, insbesondere, ob die Fensterrosen und das Masswerk der Hitze standhalten konnten.
Das Bauwerk vor dem Brand
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Bild 1 von 5. Aussenansicht der Kathedrale in Paris. Bildquelle: SRF.
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Bild 2 von 5. Details vom Bleidach mit dem Firstschmuck. Bildquelle: SRF.
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Bild 3 von 5. Blick auf das Bleidach der Notre-Dame in Paris. Bildquelle: SRF.
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Bild 4 von 5. Einzug Christi in Jerusalem, Skulpturen aus dem 14. Jahrhundert. Ob diese Chorschranke vom Brand betroffen ist, ist noch nicht klar. Bildquelle: SRF.
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Bild 5 von 5. Durch den Brand gefährdet: Die Nordrose der Kathedrale Notre-Dame in Paris. Bildquelle: SRF.
Ist es aus kunsthistorischer Sicht eine Katastrophe?
Ja. Seit der Bombardierung des Doms in Reims im Ersten Weltkrieg ist dies der schlimmste Verlust eines wichtigen Weltarchitekturdenkmals.
Viel Substanz kann man nicht ersetzen, man muss alles neu machen und es wird anders wirken.
Die Kathedrale von Notre-Dame in Paris ist achthundert Jahre alt, über 200 Jahre lang wurde an ihr gebaut. Was ist an ihr besonders?
Die Zeit der Gotik hat auf der Île de France etwa um 1130 begonnen. 1163 begann man mit dem Bau dieser an Massen alles übertreffenden Kathedrale. Wir finden darin sehr viel Experimentelles, beispielsweise den Übergang von der Frühgotik zur Hochgotik. Paris war damals der Nabel der Welt. Dort haben die Wissenschaft und die Kunst die höchste Blüte in dieser Zeit erreicht.
Nach dem Bildersturm wollte man die Kathedrale Notre-Dame zu einer Kathedrale der Weisheit und des Wissens machen.
Beeindruckend an der Kathedrale ist auch ihre Dimension. 10’000 Menschen haben darin Platz. Ist das aussergewöhnlich?
Die Kathedrale Notre-Dame in Paris wird zwar im Volumen von der Kathedrale von Amiens noch übertroffen. Aber rein die Fläche mit 130 Metern Länge macht sie zu einem der grössten Denkmäler der gotischen Architektur.
Anhänger der Französischen Revolution verwüsteten Ende des 18. Jahrhunderts das Innere der Kirche. Aber sie rissen sie nicht ab, anders als andere Sakralbauten. Hat das einen speziellen Grund?
Ja, die Revolutionäre stürzten die Königsfiguren von der Fassade runter. Das war ein Symbol dafür, dass der Feudalismus überwunden worden war. Man wollte danach die Kathedrale Notre-Dame zu einer Kathedrale der Weisheit und des Wissens machen.
Die Bedeutung der Notre-Dame wurde uminterpretiert?
Notre-Dame nach dem Feuer
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Bild 1 von 6. Unwirklich: Die Pariser Kathedrale von Notre-Dame im morgendlichen Zwielicht nach dem verheerenden Brand vom Vorabend. Bildquelle: Keystone.
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Bild 2 von 6. Menschen stehen am Morgen am Kai der Seine und nehmen die vom Brand schwer gezeichnete Kathedrale in Augenschein. Bildquelle: Keystone.
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Bild 3 von 6. Das Portal des Querhauses ist russgeschwärzt. Inwieweit die Rosettenfenster mit ihrem filigranen Masswerk im Rayonannt-Stil Schaden genommen haben, ist derzeit noch nicht abzuschätzen. Bildquelle: Keystone.
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Bild 4 von 6. Die Befürchtung, die Türme könnten kollabieren und die tonnenschweren Glocken von Notre-Dame abstürzen, bewahrheitete sich zum Glück nicht. Vermutlich habe die Arbeit der Feuerwehr hier Früchte getragen, so ein Sprecher. Man habe während der Löscharbeiten explizit versucht, die Struktur der beiden Türme zu schützen. Bildquelle: Keystone.
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Bild 5 von 6. Rund hundert Feuerwehrwehrleute sind noch im Einsatz. Am Montagabend waren es rund 400. Experten und Architekten wollen im Laufe des Tages darüber beraten, wie die Feuerwehr ihre Arbeit fortsetzen kann und ob die Kathedrale stabil ist. Bildquelle: Keystone.
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Bild 6 von 6. Die hohen Temperaturen des Feuers haben Teile des Baugerüsts zum Schmelzen gebracht. Bildquelle: Keystone.
Ja, man kann sagen, der Bildersturm hatte eine destruktiv-bildschöpferische Wirkung
Die Kirche erhielt später eher wenig Beachtung, sie zerfiel. Das änderte sich erst nach 1831 als Victor Hugos Roman «Der Glöckner von Notre-Dame» erschien. Hat der Roman die Kathedrale vor dem Zerfall gerettet?
Das mag mit ein Grund gewesen sein. Allerdings lag damals die Restaurierung der mittelalterlichen Architektur im allgemeinen Trend. Goethe gab schon Jahrzehnte früher mit einem wichtigen Aufsatz über das Strassburger Münster den Anstoss. Ich denke, es waren politische Verhältnisse, die die frühere Instandsetzungen verhindert haben.
Was bedeutet Notre-Dame heute aus kunstgeschichtlicher Sicht?
Es ist eines der wichtigsten Architekturdenkmäler, die es auf der Welt gibt. Doch nun ist der originale Dachstuhl verloren. In den Weltkriegen wurden mehrere sakrale Grossbauten von Bomben getroffen. Viel Substanz kann man nicht ersetzen, man muss alles neu machen und es wird anders wirken. Und vor allem haben wir noch kein Bild von den Zerstörungen im Innern, etwa an den Skulpturen an der Chorschranke und an den Fenstern.
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Bild 1 von 8. Eine riesige Rauchsäule steht über einem der berühmtesten Wahrzeichen der Welt - der Kathedrale Notre-Dame in Paris. Über Stunden frisst sich das Feuer durch den Dachstuhl. Bildquelle: Reuters.
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Bild 2 von 8. Flammen schlagen lichterloh aus dem Dachstuhl. Der kleine Spitzturm der Kathedrale bricht zusammen. Bildquelle: Reuters.
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Bild 3 von 8. Nach Angaben des Innenministeriums war die Feuerwehr mit Hunderten Einsatzkräften vor Ort. Medienberichten zufolge wurde ein Feuerwehrmann bei den Löscharbeiten schwer verletzt. Bildquelle: Keystone.
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Bild 4 von 8. Der Brand war auf dem Dachboden der Kathedrale ausgebrochen und gegen 18.50 Uhr entdeckt worden. Bildquelle: Keystone.
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Bild 5 von 8. Das Feuer brachte an mehreren Stellen des Kirchenschiffs die Deckenkonstruktion zum Einsturz. Die Statik des Gebäudes sei aber nicht in Gefahr, so die Feuerwehr. Man könne annehmen, dass die Struktur von Notre-Dame gerettet und in ihrer Gesamtheit bewahrt sei. Bildquelle: Keystone.
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Bild 6 von 8. Ein Blick in das Kircheninnere zeigt verkohlte und herabgestürzte Dachbalken. Wie hoch der Schaden ist, lässt sich momentan noch nicht abschätzen. Die Milliardärs-Familie Pinault versprach bereits, 100 Millionen Euro für den Wiederaufbau zu spenden. Bildquelle: Keystone.
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Bild 7 von 8. «Wir werden Notre-Dame wieder aufbauen», sagte Staatschef Emmanuel Macron nach einem Besuch vor Ort. «Denn das ist es, was die Franzosen erwarten.» Er kündigte eine nationale Spendensammlung an, um den Wiederaufbau zu finanzieren. Bildquelle: Keystone.
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Bild 8 von 8. Notre-Dame ist eine der Pariser Top-Touristenattraktionen und wird jährlich von Millionen von Menschen besucht. Bildquelle: Keystone.
Trifft das Feuer nicht nur das Herz von Paris, sondern auch das Herz Frankreichs?
Ich würde sagen, es trifft das Herz der Welt.
Das Gespräch führte Christina Scheidegger.