Am 29. März hat Bürgermeister Sergej Sobjanin in Moskau eine weitgehende Quarantäne erlassen. An dem Tag wurden in der russischen Hauptstadt 197 neue Corona-Infektionen gemeldet. Heute, zweieinhalb Monate später, lag die Zahl der neuen Fälle bei 2000. Also zehn Mal höher. Und Sobjanin entschied: die Anti-Corona-Massnahmen werden weitgehend aufgehoben.
Schon ab Dienstag dürfen Moskauerinnen und Moskauer wieder aus dem Haus. Sie dürfen spazieren gehen und joggen – wie es ihnen gefällt. Sie brauchen keinen digitalen Passierschein mehr, wenn sie mit dem Auto oder der Metro fahren wollen. Schönheitssalons und Coiffeure machen wieder auf. Und bis Ende Juni dürfen sogar Restaurants und Fitnessclubs ihren Betrieb wieder aufnehmen. Es ist, als gäbe es das Virus nicht.
Putin hat grosse Pläne
Diese «Rückkehr zur Normalität» kommt völlig überraschend. Sie passt auch nicht zur bisherigen Politik von Sobjanin, der das Virus stets ernst nahm, der vorsichtig agierte. Warum wagt er nun diesen riskanten Schritt? Die Antwort könnte im Kreml liegen, bei Präsident Wladimir Putin. Der will nämlich am 24. Juni die grosse Militärparade durchführen, die an den sowjetischen Sieg im Zweiten Weltkrieg erinnert.
Und danach, unmittelbar nach diesem patriotischen Freudenfest, sollen die Russinnen und Russen gleich auch noch eine neue Verfassung an der Urne absegnen. Wichtigster Punkt der Reform: die Amtszeitbeschränkung für Putin wird faktisch abgeschafft, er darf bis mindestens 2036 weiterregieren.
Pragmatiker Sobjanin gerät unter Druck
Dem Präsidenten also geht es um Machtpolitik, darum, seine eigene Macht abzusichern. Man hat ohnehin den Eindruck, dass ihn dieses Virus nicht besonders interessiert. Die historischen Siege Russlands, die geopolitische Lage, Raumfahrt und Rüstung: das sind die Themen, die den Präsidenten in ihren Bann ziehen.
Mit anderen Worten: eine glänzende Militärparade ist interessanter als das Klein-Klein der Seuchenbekämpfung. In den letzten Tagen hat es deswegen Gerüchte gegeben, der Kreml dränge auf eine raschere Öffnung der Hauptstadt. Der Pragmatiker Sobjanin sei unter Druck der Ideologen aus dem Kreml geraten.
Das ist durchaus plausibel. Man stelle sich vor: in Moskau wären Ende Juni die Menschen noch in ihren Wohnungen eingesperrt gewesen, aber durch die Stadt wären tausende Soldaten marschiert, Panzer über den Roten Platz gerollt. Wenn der russische Staat seine Macht zelebriert, braucht er sein Publikum: das Volk. Die Gesundheit kommt da erst an zweiter Stelle.