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Russland und Coronakrise Laissez-faire bei der Quarantäne in Moskau

Trotz vieler Neufinfektionen: Die Hauptstadt handhabt die Corona-Massnahmen neuerdings erstaunlich lasch. Was ist los?

Ein kleiner Junge brettert mit seinem Trottinett durch die Fussgängerzone in einem Wohnquartier – seine Eltern in hohem Tempo hinterher – vorbei an einem älteren Ehepaar und einer Gruppe Teenager. Eine fast idyllische Szene im Moskauer Frühling.

Auf einer Parkbank an der Sonne sitzt die 27-jährige Ekaterina und sagt gut gelaunt: «Ich wohne im Haus da drüben und habe das Recht, hier zu sitzen. Das lass ich mir nicht nehmen.» Wobei sie sich irrt: Streng genommen ist es verboten, was sie macht. Überhaupt haben all diese Leute in der Fussgängerzone eigentlich nichts verloren.

Moskau
Legende: Russisches Sprichwort: «Im Prinzip ist es verboten, aber wenn man wirklich, wirklich möchte, dann darf man schon.» SRF

Die strengen Regeln gelten unverändert

Moskaus Stadtpräsident Sergej Sobjanin hat vor anderthalb Monaten strenge Quarantäneregeln erlassen, die immer noch gelten. Aus der Wohnung darf nur, wer in den Supermarkt, zum Arzt oder zur Arbeit muss. «Wenn Sobjanin hier vorbeikäme, würde er sich doch zu mir auf die Parkbank setzen und auch ein paar Minuten die Sonne geniessen», entgegnet Ekaterina.

Ekaterina steht stellvertretend für den Umgang von Moskauerinnen und Moskauern mit der Coronakrise: Sie ist nicht unvernünftig, trifft sich kaum mit Freunden. Aber bis zum Letzten hält sie sich nicht an die Weisungen.

Ein abgeklärter Rentner

So macht es auch Alexander, der in einem nahen Hinterhof sitzt und genüsslich eine Zigarette raucht: «Ich halte mich schon an die Regeln – im Grossen und Ganzen. Mit meinen 77 Jahren gehöre ich zur Risikogruppe. Aber mal so kurz raus auf eine Zigarette kann man ja wohl noch.»

Alexander glaubt, dass es typisch ist für die Russen, die Regeln auch mal kreativ zu interpretieren: «In diesem Land ist alles Mögliche schon einmal verboten gewesen – die Leute haben sich schlicht dran gewöhnt.»

Suche nach dem Kompromiss

Als die Corona-Epidemie ausbrach, wurde in Moskau gerätselt, wie der Kreml reagieren würde: Knallhart? Oder eher weich? Putin hat sich entschieden, die Verantwortung den Gouverneuren zu überlassen. Zugleich hat Putin kürzlich die Rückkehr zur Normalität angekündigt, ohne konkreter zu werden.

Bürgermeister Sobjanin fährt seither eine typisch russische Kompromisslinie: Strenge Regeln wurden erlassen und die ersten paar Wochen auch eingehalten. In der Stadt war es deutlich ruhiger. Inzwischen aber nehmen es die Moskauerinnen und Moskauer nicht mehr so streng – und der Staat drückt beide Augen zu.

Das Resultat ist nicht gut: Moskau hat inzwischen über 120’000 offiziell bestätigte Corona-Infizierte, täglich kommen rund 5000 dazu. Russland liegt damit hinter den USA auf Platz zwei.

Vertrauen nachhaltig gestört

Der kritische Moskauer Politik-Beobachter Wladislaw Inosemzev ortet das Hauptproblem im mangelnden Vertrauen in die Staatsmacht: «Die Bürger denken sich: Ach was, die haben uns schon vor allem Möglichen gewarnt – vor Terror, Extremismus – und jetzt dieses Virus. Wir machen einfach weiter wie immer.»

Im Westen herrscht der Eindruck, der Kreml sei autoritär, greife stets hart durch. Inosemzev relativiert: «Es ist eine Sache, in Moskau eine Demonstration aufzulösen und ein paar Leute festzunehmen. Aber eine wirklich starke Staatsmacht beschliesst etwas und setzt das auch durch.» Doch in Russland würden dauernd Massnahmen angekündigt und dann nicht oder nur halbherzig umgesetzt.

In Russland werden ständig Massnahmen angekündigt, die dann nicht oder nur halbherzig umgesetzt werden.
Autor: Wladislaw Inosemzev Politik-Beobachter, Moskau

So ist es auch in der Moskauer Quarantäne – oder im russischen Sprichwort: «Im Prinzip ist es verboten, aber wenn man wirklich, wirklich möchte, dann darf man schon.»

Rendez-vous, 13.05.2020, 12:30 Uhr

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