Als Mitte August die verstörenden Bilder der chaotischen Evakuierung aus Afghanistan um die Welt gingen, war das Urteil umgehend gefällt: Präsident Joe Biden habe mit dem Abzug einen grossen Fehler gemacht, der die Glaubwürdigkeit der USA bei Alliierten und auch bei Gegnern untergrabe.
So sagte beispielsweise der frühere US-Verteidigungsminister Leon Panetta: «Die Glaubwürdigkeit der USA ist infrage gestellt.» Doch was ist überhaupt Glaubwürdigkeit? Der Politologe Daryl Press vom Dartmouth College hat sich zehn Jahre lang mit dieser Frage befasst: Glaubwürdigkeit beruhe auf der Einschätzung anderer, ob ein Staat seine Drohungen wahrmache oder Versprechen einhalte.
Mythenbildung durch Zweiten Weltkrieg
Was aber passiert, wenn er dies nicht tut und zum Beispiel Ultimaten verstreichen oder Partner im Stich lässt? «Erstaunlicherweise hat dies langfristig keine negativen Folgen», sagt Daryl Press: Weder wendeten sich Alliierte ab, noch ermutige dies Feinde. Während vier Jahren habe er in Archiven gesucht, aber keinen einzigen Beweis dafür gefunden, dass ein Glaubwürdigkeitsverlust langfristig negative Folgen hatte. Die Sorge um die Glaubwürdigkeit beruhe vielmehr auf Mythen aus der Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges.
Viele glaubten zum Beispiel, dass es die Nachgiebigkeit Grossbritanniens und Frankreichs gegenüber Hitler gewesen sei – die sogenannte Appeasement-Politik – die Deutschland dazu ermutigte, in Polen einzumarschieren. Doch dies sei falsch: «Es waren der Nichtangriffspakt mit Russland und die militärischen Befestigungen im Westen, die Hitler zum militärischen Angriff motivierten – nicht die Unglaubwürdigkeit von Grossbritannien und Frankreich.»
Professor Robert Kelly, der in Südkorea Politologie lehrt, hat ebenfalls zu dem Thema geforscht. Er nennt ein weiteres historisches Beispiel. In den 60er-Jahren hätten viele US-Politiker vorausgesagt: Wenn die USA aus Vietnam abzögen, werde man unglaubwürdig und die gesamte Region werde dem Kommunismus verfallen. Das sei aber nicht passiert.
Und heute löse der Rückzug der USA aus Afghanistan bei asiatischen Verbündeten wie Südkorea, Japan oder Taiwan, keineswegs Angst aus: «Afghanistan ist bereits nicht mehr Thema Nummer 1 in Südkorea. Und in Meinungskommentaren beklagt niemand den Glaubwürdigkeitsverlust der USA und dessen Konsequenzen für die asiatischen Verbündeten.»
Es gebe Stimmen, die den Rückzug sogar positiv bewerteten, weil sich die USA nun wieder vermehrt den asiatischen Alliierten und der Bedrohung durch China zuwenden könnten.
Warum erst jetzt raus aus Afghanistan?
Auch Glaubwürdigkeitsforscher Daryl Press ist überzeugt: Die Ereignisse am Flughafen von Kabul ermutigten zum Beispiel Peking nicht beim Vorhaben, Taiwan dereinst militärisch anzugreifen: «Vergangene Fehler oder Misserfolge spielen keine Rolle, wenn ein Staat in einer Krise Entscheidungen treffen muss.» Wichtiger sei die Frage, ob ein Verbündeter oder Gegner in diesem Moment das Interesse und die notwendigen militärischen Mittel habe, um seine Verpflichtungen einhalten zu können.
Statt sich um Glaubwürdigkeitsverlust zu sorgen, sollten sich die USA jetzt besser fragen: «Warum brauchten die USA derart lange, um sich aus dem Krieg in Afghanistan zurückzuziehen, der nicht zu gewinnen war?»