Bei einem Angriff am Freitagabend auf eine Konzerthalle in Moskau haben Bewaffnete mindestens 137 Menschen getötet. Die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) hat sich zum Attentat bekannt. Dieser Anschlag unterscheide sich markant von früheren Attentaten des IS, sagt der emeritierte Professor für Islamwissenschaften der Uni Bern, Reinhard Schulze.
SRF News: Was ist besonders auffällig am Terroranschlag in Moskau?
Reinhard Schulze: Wenn die Nachrichten, die die Attentäter selbst verbreiteten, stimmen, standen sie nur sehr kurz mit dem IS in Kontakt. Die Vorbereitung und Durchführung der Tat haben einen Zeitraum von etwa zehn bis zwölf Tagen, fast zwei Wochen nur beansprucht. Dieses schnelle Rekrutieren ist sicherlich etwas Neues. Weiter dürfte neu sein, dass es sich dabei um Söldner handelt. Das heisst, der IS ist in der Lage, Leute zu rekrutieren, die für Geld oder für andere Motive bereit sind, Anschläge durchzuführen. Neu sind auch die indirekten Statements, die der IS jetzt verbreitet. Er gibt nicht mehr eine klassische Kommandoerklärung ab, sondern macht über visuelle Medien auf die Tat aufmerksam. Er macht viel weniger von der alten islamischen Tradition Gebrauch, um den Anschlag zu erklären.
Warum setzt der IS nun auf Söldner, die sozusagen im Schnelldurchlauf zu Gotteskriegern ausgebildet wurden?
Das dürfte damit zusammenhängen, dass in den IS-Hochburgen, die es bisher gegeben hat, nicht mehr genügend Kämpfer existieren. Der IS hat etwa 1000 bis 2000 Kämpfer in Afghanistan versammeln können. Die sind aber sehr stark militärisch durch die Taliban unter Druck geraten. Das bedeutet, dass der IS gezwungen ist, auch auswärtige Leute zu rekrutieren, vor allem in solchen Gemeinschaften, die innerhalb Afghanistans im Konflikt mit den Taliban stehen.
Es wird nicht mehr davon gesprochen, dass die Tat sich gegen das Laster der westlichen Welt richtet und deshalb ‹Lasterhöhlen› wie Musikveranstaltungen angegriffen werden. Heute heisst es einfach nur noch: Man hat Christen getötet.
Die Kommunikation des IS hat sich markant geändert. Die Organisation hat Videoaufnahmen der Tat ins Netz gestellt, und auch das Bekennerschreiben war kurz und knapp. Was bezweckt der IS damit?
Sicherlich will der IS mit dieser Art von Kommunikation an die Kommunikationserwartungen der jüngeren Leute anknüpfen. Das heisst, das Visuelle steht jetzt im Vordergrund und das altbackene Islamische tritt in den Hintergrund. Es wird nicht mehr davon gesprochen, dass es sich dabei um eine Tat handelt, die sich beispielsweise gegen das Laster der westlichen Welt richtet und deshalb solche Lasterhöhlen angegriffen werden wie Musikveranstaltungen. Das hat der IS früher gemacht. Heute heisst es einfach nur noch schlicht: Man hat Christen getötet. Punkt.
Die vier Tatverdächtigen des Attentats sind noch am Leben. Ist das auch Absicht?
Das ist sicherlich neu. Wir hatten eine ähnliche Entwicklung schon im Januar bei dem Anschlag auf die Santa Maria Kirche in Istanbul, wo die Attentäter sich auch vom Tatort entfernt haben und dann verhaftet wurden.
Das klassische Handlungsmuster, das wir etwa vom Bataclan-Attentat in Paris kennen, bei dem sich der Täter selbst opfert, scheint in den Hintergrund zu treten.
Das alte Ideal des Selbstmordattentates tritt offensichtlich beim IS in den Hintergrund. Das deutet darauf hin, dass sich auch der inhaltliche Raum, in dem sich der IS bewegt, zu verändern beginnt – in welche Richtung, können wir noch nicht abschätzen. Aber jedenfalls scheint das klassische Handlungsmuster, das wir etwa von dem Bataclan-Attentat in Paris von 2015 kennen, bei dem dann der Täter sich selbst opfert, in den Hintergrund zu treten.
Das Gespräch führte Romana Kayser.
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