Seine Rede begann der israelische Staatspräsident Reuven Rivlin am Vorabend des Holocaust-Gedenktages mit der Geschichte eines Holocaust-Überlebenden – und einer düsteren Warnung: «Der Staat Israel ist keine Selbstverständlichkeit – das war er auch in den letzten 75 Jahren nie.»
In seiner 11-minütigen Rede sprach er kein einziges Mal von den Feinden, die Israel das Existenzrecht absprechen und den kleinen jüdischen Staat mit Waffengewalt bedrohen. Er sprach einzig vom inneren Zustand des Landes: Seit 2014 sei er Präsident und habe fünf Knessetwahlen erlebt, vier alleine in den letzten zwei Jahren.
Ein angeklagter Premier
Unverhohlen deutete er an, dass es ihm schwerfalle, abermals Benjamin Netanjahu mit der Regierungsbildung zu beauftragen: «Mir ist bewusst, dass ihr keinen Premier wollt, der angeklagt ist.»
Während der Staatspräsident sprach, musste Premier Netanjahu wegen Korruptionsvorwürfen vor Gericht erscheinen. Kein Wunder tat sich Rivlin schwer mit dem Mandat: Doch das Gesetz lasse ihm keine Wahl, und er versuche nur, den Wählerwillen umzusetzen.
Extreme Positionen im rechten Lager
Keine einfache Aufgabe. Nach den vierten Parlamentswahlen ist die israelische Parteienlandschaft ein Mosaik der Extreme. Die extremsten Unterschiede sind nicht zwischen links und rechts, sondern innerhalb des rechten Parteispektrums.
So verlangt eine Rechtsaussen-Partei die Kündigung der UNO-Frauenrechtskonvention: Solche Massnahmen zum Schutz aller Frauen vor Gewalt unterhöhlten die jüdische Kultur, behauptet der Chef der extrem rechten Noam-Partei.
Eine andere Partei möchte am liebsten die 20 Prozent arabischen Bürgerinnen und Bürger loswerden – und droht damit, jede Regierungskoalition zu boykottieren, in der gewählte arabische Vertreter sitzen. Und Ultrareligiöse stellen liberale Juden in einem Wahlkampfspot als Hunde dar – weil sie diese gar nicht als Juden anerkennen.
Die rechten Parteien haben im Parlament zwei Drittel aller Sitze. Nur schon den kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden, ist schwer.
Rivlin zitiert Abraham Lincoln
Die israelische Bevölkerung scheint so gespalten zu wählen, dass Shaul von der beliebten jüdischen Satire-Gruppe Eretz Nehederet spottete, es gebe nur eine Lösung für diese Zerrissenheit: «Wir brauchen einen Bürgerkrieg! Jedes Land, das sich selbst respektiert, muss einen Bürgerkrieg durchmachen! Schaut die USA an: Sie hatten einen Bürgerkrieg und anschliessend erreichten sie den Mond!»
Nicht alle Israelis goutierten diese Satire. Und doch schien der Gedanke eines Bürgerkriegs auch Staatspräsident Rivlin zu beschäftigen. In seiner Rede zitierte er den US-Bürgerkriegspräsidenten Abraham Lincoln: «Mit Groll gegen keinen, mit Güte gegen alle, mit Festigkeit im Recht, wollen wir streben, die Aufgaben, in denen wir uns befinden, zu Ende zu bringen, die Wunden der Nation zu verbinden ...»
Ein gespaltenes Land
Das Zitat hatte schon Israels Premier und Friedensnobelpreisträger Menachem Begin benutzt. Er war 1977 der erste Premier der Likud-Partei, die jetzt fest in Netanjahus Hand ist.
Rivlin verabschiedete sich mit sorgenvollem Gesicht. Seine Amtszeit endet in wenigen Monaten. Gerne hätte er seinem Land wohl eine stabile Regierung hinterlassen. So wie es aussieht, übergibt er seinem Nachfolger ein gespaltenes Land – mit einem Premier, der wohl schon bald wieder für Neuwahlen sorgen wird.