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Nach Erdstoss in Istanbul Wie lebt es sich mit der Angst vor dem nächsten Erdbeben?

Fachleute warnen schon lange vor einem grossen Beben in der Region um Istanbul. Wie geht man mit dieser Angst um?

Das ist passiert: In Istanbul erschütterte am Mittwoch ein heftiger Erdstoss die türkische Millionenmetropole. Im Vergleich zum Erdbeben vor zwei Jahren im Südosten der Türkei und in Syrien ist dieses Beben glimpflich ausgegangen. Gebannt ist die Gefahr aber nicht. Fachleute warnen vor einem noch viel grösseren Beben in der Region.

Gut vorbereitet sein: Eine von knapp 16 Millionen Menschen in Istanbul ist Selin. Die 24-Jährige ist Anwältin von Beruf. Bevor sie schlafen gehe, lege sie ihre Autoschlüssel bereit, damit sie jederzeit bereit wäre, aus ihrer Wohnung zu flüchten, sagt sie SRF. «Die Leute in der Türkei haben zwar Erfahrung mit Erdbeben, aber wenn es dann so weit ist, verfallen viele trotzdem in Panik.».

Training für den Ernstfall: Tugce erzählt, dass sie am Mittwoch mit ihrer Familie gerade im Auto unterwegs gewesen sei, als die Erde zu beben anfing. Sie berichtet von der Panik. Sie selbst sei ruhig geblieben. Denn sie habe sich nach dem schweren Erdbeben von 2023 vorbereitet. Tugce hat ein Training absolviert, was im Ernstfall zu tun ist. Das habe ihr ein Stück Sicherheit gegeben. Tugce könnte laut eigenen Aussagen im Ernstfall ohne Hilfe 72 Stunden überleben. Dafür hätten sie und ihre Familie immer eine gepackte Tasche mit dem Nötigsten bereit.

Kollektive Angst: Marcus Bachmann arbeitet für die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen Österreich und war nach verschiedenen Erdbeben im Einsatz: in Haiti 2010 und im Südosten der Türkei und Syrien 2023. Er sagt, es brauche nach einem Erdbeben nicht nur Erste Hilfe, sondern auch längerfristig Unterstützung, um mit den psychischen Folgen eines Bebens klarzukommen. «Die Menschen sind ständig in höchster Alarmbereitschaft. Das wirkt sich durch Konzentrations- und Schlafstörungen aus. Sie können teilweise ganz einfache tägliche Arbeiten nicht mehr erfüllen.» Sobald es ein Nachbeben gebe, löse dies jedes Mal ein hohes Ausmass an Panik bei den Betroffenen aus, sagt Bachmann.

Menschen vor grosser Moschee mit vier Minaretten.
Legende: Menschen warten in Istanbul nach einem Erdbeben im Freien aus Angst vor Nachbeben (23. April 2025). Keystone/Khalil Hamra

Wut auf Politik: Die Regierung habe nicht aus dem Schmerz der Vergangenheit gelernt, sagt Selin. Schon 2023 sei das Krisenmanagement sehr schlecht gewesen, erinnert sie sich. Selin bekam damals mit, wie die Menschen unter den Trümmern teils vergebens auf Hilfe warteten. Das habe sie am stärksten traumatisiert. Selin war damals noch Studentin und versuchte den Menschen im Südosten des Landes irgendwie zu helfen. Das steckt ihr heute noch in den Knochen.

Särge, keine Häuser: Fachleute schätzen, dass mehr als eine Million Gebäude in Istanbul nicht erdbebensicher sind. Ein türkischer Oppositionspolitiker bemerkte kürzlich im Parlament, die Menschen würden nicht in Häusern leben, sondern in Särgen. Kritikerinnen und Kritiker sagen: Immer wieder werden Häuser, die ohne Baubewilligung gebaut wurden, im Nachhinein legalisiert, ohne dass man da genau hingeschaut hätte.

Verantwortliche inhaftiert: Einen wirklichen Evakuierungsplan für Istanbul gibt es nicht. Gleichzeitig warnte Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan davor, das Erdbeben vom Mittwoch für politische Zwecke zu missbrauchen. Selin hat da eine klare Meinung. Sie sagt, die politisch Verantwortlichen in Istanbul könnten gar nichts tun. Sowohl Istanbuls Stadtpräsident Ekrem Imamoglu, der Minister für Erdbebensicherheit sowie der Minister für Umzäunungen befinden sich in Haft.

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Newsplus, 25.04.2025, 16 Uhr ; 

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