Erst versuchte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, sich im Gaza-Konflikt als Vermittler zu präsentieren. Doch nun positioniert er sich als Fürsprecher der Palästinenser. Er nennt die radikal-islamische Hamas eine «Befreiungsorganisation» und hat seinen geplanten Besuch in Israel abgesagt. Türkeikenner Thomas Seibert kennt die Gründe dafür.
SRF News: Wie erklären Sie sich Erdogans Sinneswandel?
Thomas Seibert: Das hat zum einen mit der türkischen Innenpolitik zu tun. Hier stehen in fünf Monaten wichtige Kommunalwahlen an, bei denen Erdogan unbedingt Istanbul und die Hauptstadt Ankara für seine Partei zurückgewinnen will. Da gilt es, die Reihen zu schliessen.
Erdogan hat ein klares Motiv, sich eher auf die palästinensische Seite zu schlagen.
In seiner konservativ-religiösen Anhängerschaft ist die Sympathie für die Palästinenser gross und das Misstrauen gegen Israel genauso. Das heisst, er hat ein klares Motiv, sich eher auf die palästinensische Seite zu schlagen. Der andere Grund ist aussenpolitisch: Beobachter hier beklagen immer wieder, dass der Westen sich ohne Wenn und Aber auf die Seite von Israel gestellt hat. Diese westliche Phalanx hat es im Grunde genommen für Erdogan unmöglich gemacht, sich in die Reihen des Westens einzureihen. Er muss eine eigene Position ausserhalb dieser Phalanx suchen.
Gleichzeitig hat Erdogan Andeutungen gemacht, die eine Hintertür für eine Vermittlung mit Israel offenlassen. Haben Sie das auch gehört?
Diese Zwischentöne gab es auf jeden Fall. Er sagte, die Türkei habe kein Problem mit dem israelischen Staat, sondern lediglich mit dem israelischen Vorgehen in Gaza. Er hält sich diese Hintertür offen, weil er bis zum 7. Oktober daran war, die Beziehungen der Türkei zu Israel zu reparieren.
Der türkische Präsident hält sich immer noch für einen Vermittler im Gaza-Konflikt, der Israel ungeschminkt die Wahrheit ins Gesicht sagen kann.
Diese Perspektive will er mittelfristig nicht aufgeben. Und er hält sich immer noch für einen Vermittler im Gaza-Konflikt, der Israel ungeschminkt die Wahrheit ins Gesicht sagen kann. Er hält sich so die Möglichkeit offen, hier als Vermittler eingesetzt zu werden.
Am 29. Oktober feiert die Türkische Republik den hundertsten Jahrestag ihrer Gründung. In welchem Zusammenhang werden diese Feiern stehen?
Recep Tayyip Erdogan wird diese Feiern nutzen, um sich selber in den Mittelpunkt zu rücken. Atatürk wird etwas an den Rand gedrückt. Stattdessen nehmen Erdogan und seine Politik der letzten 20 Jahre den meisten Raum ein. Da passt auch dieser Gaza-Konflikt gut ins Bild, wenn Erdogan sich als Staatsmann auf internationaler Bühne präsentieren kann. Insofern wird es Erdogan bestimmt nicht unrecht sein, dass er diese 100-Jahr-Feiern ein wenig für sich selber nutzen kann.
Das Gespräch führte Ivana Pribakovic.