«Israels Krieg im Gazastreifen hat Züge eines Genozids angenommen»: Mit dieser Aussage lässt einer der weltweit führenden Holocaust-Forscher aufhorchen. Gerade in Israel, wo viele die Worte von Omer Bartov als Tabubruch empfinden. Im «Echo der Zeit» erklärt der israelische Historiker, der als Professor in den USA lehrt, wie er zu seiner Einschätzung kommt – und warum israelische Soldatinnen und Soldaten überzeugt davon sind, dass sie einen gerechten Krieg kämpfen.
SRF News: Noch im Herbst letzten Jahres sagten Sie, dass sie keine Beweise für einen Genozid im Gazastreifen sehen. Weshalb haben Sie Ihre Meinung geändert?
Omer Bartov: Im November 2023 habe ich in der New York Times geschrieben, dass im Gazastreifen wahrscheinlich Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen werden. Es gab aber nicht genügend Beweise dafür, dass sich dort ein Genozid vollzieht. Das hat sich geändert. Inzwischen gibt es viele Beweise dafür, dass Israel systematisch vorgeht: Es zielt darauf ab, alles zu vernichten, was das kulturelle Fortbestehen der Palästinenser im Gazastreifen ermöglichen würde.
Israel beabsichtigt meines Erachtens, den gesamten Gazastreifen für die Palästinenser unbewohnbar zu machen.
Schon jetzt gibt es ungefähr 42'000 Tote in Gaza und fast 100'000 Verwundete. Tausende mehr dürften unter zerstörten Häusern begraben worden sein. Universitäten, Schulen, Museen und Moscheen werden systematisch zerstört. Israel beabsichtigt meines Erachtens, den gesamten Gazastreifen für die Palästinenser unbewohnbar zu machen.
Sie forschen seit Jahrzehnten zum Thema Genozid. Wie genau wird dieser definiert, wie lässt er sich festmachen?
Es handelt sich dabei um einen komplizierten Begriff. «Genozid» bezeichnet Handlungen, die in der Absicht begangen werden, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise zu vernichten. Zu beweisen ist die genozidale Absicht und schliesslich die Implementierung dieser Absicht. Ein Genozid geht darüber hinaus, viele Menschen zu töten. Es geht darum, eine Gruppe als solche zu töten.
Und das passiert derzeit im Gazastreifen?
Ja, genau.
Sie haben mit jungen Israelis gesprochen, die in Gaza gekämpft haben. Wie haben Sie diese Soldatinnen und Soldaten erlebt?
Auf der einen Seite bezeichneten sie ihre Handlungen als gerecht. Diese Leute müssten zerstört werden, sagen sie, um den eigenen Staat zu beschützen. Auf der anderen Seite stellten sie in Abrede, dass in Gaza Kriegsverbrechen begangen werden. Sie konnten sich nicht damit arrangieren, dass sie selbst Teil der israelischen Vernichtungskampagne sind. Ich habe auch festgestellt, dass sie wohl unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden, und niemand redet mit ihnen über das, was sie erlebt haben. Sie wurden durch diesen Krieg brutalisiert und ideologisch fanatisiert.
Der Krieg ist als Antwort auf den Terrorangriff der radikal-islamischen Hamas vom 7. Oktober 2023 zu sehen. Für Israel war das ein Angriff auf seine Existenz. Bezichtigen Sie auch die Hamas des Genozids?
Was die Hamas am 7. Oktober getan hat, war eindeutig ein Kriegsverbrechen und ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Der Angriff kann mit Verweis auf die Gründungscharta der Hamas von 1988 als genozidaler Akt beschrieben werden. Die Hamas hat allerdings nicht die Möglichkeiten dazu, einen Genozid auch durchzuführen. Sie verfügte vor dem Krieg über rund 30'000 Kämpfer, die mit leichten Maschinengewehren bewaffnet waren. Die Hamas ist natürlich keine friedliche Organisation. Sie ist aber keine Armee, sie hat keine Panzer, Artillerie oder Flugzeuge.
Die israelische Regierung hat entschieden, das palästinensische Problem durch Vernichtung zu lösen.
Ohne ein politisches Abkommen wird dieser Krieg weitergehen. Das ist genau das, was der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu will. Wenn der Krieg fortgeführt wird, kann er an der Macht bleiben. Der Beginn eines friedlichen politischen Prozesses würde die Extremisten auf beiden Seiten schwächen. Sie sind immer dann stark, wenn es keine Perspektiven gibt – und Krieg als einzige Lösung betrachtet wird.
«Wenn wir die Hamas nicht töten, tötet sie uns»: Was sagen Sie zu diesem Argument Israels?
Das ist wahr. Die israelische Führung stellte sich aber schon am 7. Oktober auf den Standpunkt, dass alle Menschen im Gazastreifen Teil der Hamas sind. Gemäss dieser Logik kann man alle dort lebenden Menschen töten und den gesamten Gazastreifen vernichten. Die israelische Regierung hat entschieden, mit dem palästinensischen Problem so umzugehen: ethnische Säuberung, Apartheid, Annexion und Vernichtung.
Sie verwenden sehr umstrittene Begriffe, wenn Sie von Apartheid oder Genozid sprechen. Mit Ihren Aussagen machen Sie sich in Israel kaum beliebt. Wie reagieren Ihre Freunde und Ihr Umfeld dort auf Ihre Haltung gegenüber diesem Krieg?
Viele meiner Bekannten und Freunde wollen nicht darüber sprechen. Sie sind verwirrt, traumatisiert und können keine Empathie für die Menschen auf der anderen Seite aufbringen. Das macht mich sehr traurig.
Woran liegt es, dass die Empathie für das Leid der Menschen in Gaza fehlt?
Diese Empathielosigkeit gibt es nicht erst seit dem 7. Oktober. Wir hatten lange davor eine Situation, dass die Palästinenser für die Israelis gar nicht existierten. Die Palästinenser befanden sich jenseits der Mauern und Kontrollposten, auf der anderen Seite. In Israel und den besetzten Gebieten leben insgesamt sieben Millionen Palästinenser und sieben Millionen Juden. Die Israelis blendeten «die anderen sieben Millionen» aber aus ihrem Bewusstsein aus.
Nach einem langen Prozess der Entmenschlichung betrachtet man die Palästinenser nicht mehr als normale Menschen.
In Israel ist eine bestimmte Art des Rassismus entstanden. Nach einem langen Prozess der Entmenschlichung betrachtet man die Palästinenser nicht mehr als normale Menschen. In dieser Denkweise stehen ihnen auch keine Rechte zu. Dadurch lässt sich fehlende Empathie glaube ich erklären.
Viele Ihrer Freunde und Bekannten wollen nicht über den Krieg in Gaza sprechen. Sie tun es. Was treibt Sie an?
Ich bin in Israel geboren und habe vier Jahre als Soldat gedient, auch im Jom-Kippur-Krieg von 1973. Danach habe ich in Israel studiert und habe dort auch als Professor gearbeitet. Meine besten Freunde leben in Israel und meine Eltern sind dort begraben. Ich fürchte, dass sich dieser Staat in eine Richtung entwickelt, die seine eigene Existenz gefährdet.
Die Leute, die den Staat leiten, sind sehr gefährlich. Die Bevölkerung kann oder will derzeit nichts dagegen unternehmen. Ich bin der Meinung, dass von aussen Druck auf Israel ausgeübt werden muss – besonders von den USA. Dafür tue ich, was in meiner Macht steht.
Das Gespräch führte Brigitte Kramer.