Seit die Ausweitung des Kriegs in Nahost droht, rückt die Situation der Bevölkerung im Gazastreifen etwas in den Hintergrund. Doch die Lage ist dramatischer denn je, sagt Corinne Fleischer. Die Schweizerin leitet das UNO-Welternährungsprogramm für den Nahen Osten und war vor Kurzem in dem umkämpften Küstenstreifen.
SRF News: Wie sieht Gaza-Stadt aus?
Corinne Fleischer: Flach, es ist alles zerstört. Spitäler, Schulen, Fabriken, wo Nahrungsmittel hergestellt wurden, sind zerstört und die Leute versuchen irgendwie zurechtzukommen. Es gibt keine Arbeit. Und die, die eine haben, vielleicht bei humanitären Organisationen, bekommen kaum Geld, weil die Liquidität fehlt. Die Kinder sind auf der Strasse, nicht in der Schule, und müssen Wasser schleppen. Es kann nicht richtig gekocht werden, weil es kein Gas gibt und mit Holz angefeuert werden muss. Die Wasserversorgung funktioniert nicht. Man läuft durch Lachen von Abwasser und das begünstigt den Ausbruch von Epidemien, wovor auch schon die WHO gewarnt hat.
Wie sieht der Alltag der Menschen im Gazastreifen aus?
Die Leute leben auf der Strasse oder in provisorischen Unterkünften, zum Beispiel in Schulhäusern. Ich habe eine solche Einrichtung besucht, die von der UNRWA betrieben wird. Dort leben 13’000 Menschen. In einem Klassenzimmer, wo sonst 30 Kinder mit ihren Lehrern sitzen, hausen nun 70 Menschen.
Wie erfolgt die Nahrungsverteilung?
Wir verteilen, wenn möglich, an lokale Läden mittels eines Coupon-Systems, um die lokale Wirtschaft aufrechtzuerhalten, damit wir uns auch wieder zurückziehen könnten. Die Leute sind dankbar dafür, dass wir all das auf uns nehmen, um sie am Leben zu halten. Sie wünschen sich jedoch mehr Vielfalt bei den gelieferten Nahrungsmitteln. Seit zehn Monaten essen sie nur Nahrung aus Konservenbüchsen. Wir liefern das, weil eben oft nicht gekocht werden kann. Wir prüfen derzeit, wie wir diesem Wunsch gerecht werden können.
In den letzten zwei Monaten konnten wir nur etwa die Hälfte der benötigten Hilfsgüter in den Gazastreifen bringen
Auf welchem Weg gelangen Hilfsgüter in den Gazastreifen?
Über Land. Es gibt zwei offene Grenzübergänge, aber das ist nicht genug. In den letzten zwei Monaten konnten wir nur etwa die Hälfte der benötigten Hilfsgüter in den Gazastreifen bringen. Dies aus mehreren Gründen. So ist die lokale Sicherheit nicht gewährleistet. Es gibt Banden, die es darauf abgesehen haben, unsere Nahrungsmittel zu stehlen.
Und wir arbeiten in einem Kriegsgebiet: Wir müssen unsere Bewegungen mit der israelischen Regierung koordinieren. Dies dauert unsäglich lange. Ich habe für eine Fahrt von normalerweise 30 Minuten sieben Stunden gebraucht. Die Strassen sind zerstört und voller Menschen. Wir hatten zwei platte Reifen. Wir mussten ständig bei Checkpoints warten, bis uns die Regierung grünes Licht für die Weiterfahrt gab. Unter diesen Bedingungen ist es schwierig, über eine Million Leute zu versorgen.
Wir brauchen mehr Sicherheit für unsere Mitarbeiter.
Aktuell laufen wieder Verhandlungen in Doha. Was müsste aus Ihrer Sicht passieren, damit sich die Situation verbessert?
Ein Waffenstillstand ist dringend nötig – sowohl für die Menschen im Gazastreifen als auch, um einen grösseren Krieg in der Region zu verhindern. Nur so können wir mehr Nahrungsmittel liefern. Die Koordination mit der israelischen Regierung muss ebenfalls verbessert werden, und wir müssen die Sicherheit unserer Mitarbeiter besser gewährleisten. Diese Operation war die gefährlichste, an der ich in meinen 25 Jahren im humanitären Sektor beteiligt war.
Das Gespräch führte Isabel Gajardo.