Es ist bei weitem nicht der erste Krieg, den Akram Al Sorani, 43, erlebt. Aber bei weitem der längste. Der Schriftsteller im Gazastreifen ist seit mehr als 230 Tagen ständig auf der Flucht.
Dennoch schafft er es, fast täglich einen Text auf Facebook zu veröffentlichen. Eine Kriegschronik, deren Details kaum auszuhalten sind. SRF-Nahost-Kennerin Susanne Brunner ordnet ein.
Katastrophale Bedingungen und verletztes Schamgefühl
Am 4. Juni 2024, nach Beginn von Israels Angriff auf Rafah, schrieb er:
Unsere Realität ist jenseits jeglicher Vorstellungskraft. Nicht einmal in den dunkelsten Kapiteln der Geschichte ist von so viel Dreck die Rede.
Die Hintergründe: In kürzester Zeit schwoll die Bevölkerung von Rafah auf über eine Million Menschen an: dreieinhalb mal so viele, wie vor dem Krieg dort lebten. Hilfswerke berichteten schon zu Beginn des Krieges von katastrophalen Bedingungen: Mangel an Unterkünften, zu wenig sanitären Anlagen, einem lebensbedrohlichen Mangel an Hilfsgütern.
Seit Mai, als die israelischen Streitkräfte der Hamas die Kontrolle über den Grenzübergang zu Ägypten entrissen, gelangen auf diesem Weg keine Hilfsgüter mehr zu den Menschen. Seit dem Beginn des Angriffs auf Rafah sind Zweidrittel der Menschen wieder nach Zentralgaza geflüchtet, das noch weniger Infrastruktur für Flüchtlinge hat als Rafah.
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Bild 1 von 4. Fast die halbe Bevölkerung von Gaza suchte in Rafah Zuflucht vor den Bomben und Kämpfen in anderen Teilen des Gazastreifens. Bildquelle: Keystone / EPA / HAITHAM IMAD.
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Bild 2 von 4. Seit den Angriffen auf Rafah flüchten die Menschen wieder zurück nach Zentralgaza. (Bild: Rafah, 28.5.2024). Bildquelle: REUTERS / Hatem Khaled.
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Bild 3 von 4. Menschen gehen auf zerstörten Strassen in Chan Younis (09.06.2024). Bildquelle: REUTERS / Mohammed Salem.
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Bild 4 von 4. Die meisten Menschen im Gazastreifen haben kein Zuhause und kein Einkommen mehr (Nuseirat Flüchtlingslager, Zentralgaza, 9.6.2024). Bildquelle: REUTERS / Abed Khaled.
Krieg ist auch, wenn die Natur ruft. Weniger anständig ausgedrückt: Die Menschen pissen in den Strassen. Wer sich nicht dazu überwinden kann, sein Geschäft öffentlich zu verrichten, macht in die Hosen. Angewidert warten sie, bis es Morgen wird, und dann werfen sie sich mitsamt ihrem Dreck ins Meer und waschen ihre Kleider.
Die Hintergründe: Seit Kriegsbeginn gibt es kaum noch sauberes Trinkwasser, die Infrastruktur ist durch die Dauerbombardierung zerstört worden. Je nach Ortschaft gibt es laut Hilfswerken nur ein funktionierendes WC für mehrere hundert Personen. Die Menschen tragen wochenlang dieselbe Kleidung, können sich tage- oder gar wochenlang nicht waschen.
Die Gesellschaft im Gazastreifen, wie andernorts in der arabischen Welt, ist eine «Scham-Gesellschaft». Mangelnde Körperhygiene und Verstösse gegen die strengen Regeln für die Interaktion von Männern und Frauen im öffentlichen Raum verletzen dieses Schamgefühl zutiefst. Die meisten Menschen im Gazastreifen haben kein Zuhause und kein Einkommen mehr, sie leben unter katastrophalen Bedingungen in Zeltlagern oder draussen.
Worte finden für das Grauen
Sie haben uns in seltsame Kreaturen verwandelt. Wir sind nicht mehr, wie wir einmal waren. Wir erkennen einander, unser Verhalten nicht wieder.
Die Hintergründe: Für die Zivilbevölkerung im Gazastreifen gibt es keinen sicheren Ort. Hunderttausende sind von Rafah wieder zurück nach Zentralgaza geflüchtet. Aber auch dort greifen die israelischen Streitkräfte Ziele an, weil sie weitere Geiseln und Hamas-Verstecke vermuten. Die Zahl der zivilen Opfer – über 30'000 – in Gaza ist politisch umstritten und nicht genau zu überprüfen. Es dürften zudem noch Tausende unter Trümmern liegen, an ihren Verletzungen oder auch an Unterernährung und Dehydration gestorben sein.
Schreiben im Bombenhagel
Die arabische Sprache, die mindestens ein Dutzend Wörter für Trauer und Grauen kennt, werde dem, was die Bevölkerung in Gaza durchmache, nicht gerecht, schreibt Akram Al Sorani. Man müsse dafür neue, rohere Ausdrücke erfinden.
Als Schriftsteller könne er nicht anders, als darüber zu schreiben, sagt er in einer Sprachnachricht am 6. Juni spätnachts. Seine Stimme geht fast unter in der lauten Menge, die sich um einen Internet-Hotspot drängt, der mitten auf einer Strasse wieder einmal funktioniert. Er schafft es, seinen Tagebucheintrag vom 4. Juni zu posten. Am Schluss schreibt er:
Nacht für Nacht frage ich mich: Was haben wir erreicht mit diesem Leiden? Wir wissen nicht, wann das Töten, diese Farce, dieses Chaos enden wird. Ich wünsche mir nur, dass wir nicht den Verstand verlieren. Und dass wir miterleben dürfen, wie diese Geschichte endet. – Der vertriebene Akram Al Sorani, Deir el Balah, 4. Juni, 2024.