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Gaza: Grauen, für das es keine Worte mehr gibt
Aus Rendez-vous vom 11.06.2024. Bild: zvg
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Vom Krieg vertrieben Leben in Gaza: «Sie haben uns in seltsame Kreaturen verwandelt»

Der Schriftsteller Akram Al Sorani schreibt über den unvorstellbar grauenhaften Kriegsalltag der Menschen in Gaza. Einordnung eines Tagebucheintrags.

Es ist bei weitem nicht der erste Krieg, den Akram Al Sorani, 43, erlebt. Aber bei weitem der längste. Der Schriftsteller im Gazastreifen ist seit mehr als 230 Tagen ständig auf der Flucht.

Dennoch schafft er es, fast täglich einen Text auf Facebook zu veröffentlichen. Eine Kriegschronik, deren Details kaum auszuhalten sind. SRF-Nahost-Kennerin Susanne Brunner ordnet ein.

Über Akram Al Sorani

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Akram Al Sorani (geboren am 24. Januar 1982 im Gazastreifen) begann schon früh mit dem Schreiben. Heute ist er ein bekannter palästinensischer Schriftsteller, der weit über den Gazastreifen hinaus gelesen wird. Seit dem Beginn des Gazakrieges Anfang Oktober 2023 dokumentiert er, vor allem auf Facebook, den Alltag des Krieges: seine eigene Flucht aus Gaza-Stadt nach Chan Younis, danach nach Rafah, von dort nach Mawasi an der Küste, und von dort nach Deir el Balah in Zentralgaza. Akram ist verheiratet mit Amani Mushtaha und Vater von Khaled, 15, und Carmen, 11.

Katastrophale Bedingungen und verletztes Schamgefühl

Am 4. Juni 2024, nach Beginn von Israels Angriff auf Rafah, schrieb er:

Unsere Realität ist jenseits jeglicher Vorstellungskraft. Nicht einmal in den dunkelsten Kapiteln der Geschichte ist von so viel Dreck die Rede.

Die Hintergründe: In kürzester Zeit schwoll die Bevölkerung von Rafah auf über eine Million Menschen an: dreieinhalb mal so viele, wie vor dem Krieg dort lebten. Hilfswerke berichteten schon zu Beginn des Krieges von katastrophalen Bedingungen: Mangel an Unterkünften, zu wenig sanitären Anlagen, einem lebensbedrohlichen Mangel an Hilfsgütern.

Seit Mai, als die israelischen Streitkräfte der Hamas die Kontrolle über den Grenzübergang zu Ägypten entrissen, gelangen auf diesem Weg keine Hilfsgüter mehr zu den Menschen. Seit dem Beginn des Angriffs auf Rafah sind Zweidrittel der Menschen wieder nach Zentralgaza geflüchtet, das noch weniger Infrastruktur für Flüchtlinge hat als Rafah.

Krieg ist auch, wenn die Natur ruft. Weniger anständig ausgedrückt: Die Menschen pissen in den Strassen. Wer sich nicht dazu überwinden kann, sein Geschäft öffentlich zu verrichten, macht in die Hosen. Angewidert warten sie, bis es Morgen wird, und dann werfen sie sich mitsamt ihrem Dreck ins Meer und waschen ihre Kleider.

Die Hintergründe: Seit Kriegsbeginn gibt es kaum noch sauberes Trinkwasser, die Infrastruktur ist durch die Dauerbombardierung zerstört worden. Je nach Ortschaft gibt es laut Hilfswerken nur ein funktionierendes WC für mehrere hundert Personen. Die Menschen tragen wochenlang dieselbe Kleidung, können sich tage- oder gar wochenlang nicht waschen.

Die Gesellschaft im Gazastreifen, wie andernorts in der arabischen Welt, ist eine «Scham-Gesellschaft». Mangelnde Körperhygiene und Verstösse gegen die strengen Regeln für die Interaktion von Männern und Frauen im öffentlichen Raum verletzen dieses Schamgefühl zutiefst. Die meisten Menschen im Gazastreifen haben kein Zuhause und kein Einkommen mehr, sie leben unter katastrophalen Bedingungen in Zeltlagern oder draussen.

Mann schläft auf einem roten Teppich am Strand.
Legende: Akram Al Sorani bei seinem Schlafplatz. Akram Al Sorani

Worte finden für das Grauen

Sie haben uns in seltsame Kreaturen verwandelt. Wir sind nicht mehr, wie wir einmal waren. Wir erkennen einander, unser Verhalten nicht wieder.

Die Hintergründe: Für die Zivilbevölkerung im Gazastreifen gibt es keinen sicheren Ort. Hunderttausende sind von Rafah wieder zurück nach Zentralgaza geflüchtet. Aber auch dort greifen die israelischen Streitkräfte Ziele an, weil sie weitere Geiseln und Hamas-Verstecke vermuten. Die Zahl der zivilen Opfer – über 30'000 – in Gaza ist politisch umstritten und nicht genau zu überprüfen. Es dürften zudem noch Tausende unter Trümmern liegen, an ihren Verletzungen oder auch an Unterernährung und Dehydration gestorben sein.

Schreiben im Bombenhagel

Die arabische Sprache, die mindestens ein Dutzend Wörter für Trauer und Grauen kennt, werde dem, was die Bevölkerung in Gaza durchmache, nicht gerecht, schreibt Akram Al Sorani. Man müsse dafür neue, rohere Ausdrücke erfinden.

Mehrere Menschen lächeln in die Kamera vor einem Zelt.
Legende: Akram Al Sorani schreibt, während Bombeneinschläge sein Zelt und die Kinder im Zittern lassen. Akram Al Sorani

Als Schriftsteller könne er nicht anders, als darüber zu schreiben, sagt er in einer Sprachnachricht am 6. Juni spätnachts. Seine Stimme geht fast unter in der lauten Menge, die sich um einen Internet-Hotspot drängt, der mitten auf einer Strasse wieder einmal funktioniert. Er schafft es, seinen Tagebucheintrag vom 4. Juni zu posten. Am Schluss schreibt er:

Nacht für Nacht frage ich mich: Was haben wir erreicht mit diesem Leiden? Wir wissen nicht, wann das Töten, diese Farce, dieses Chaos enden wird. Ich wünsche mir nur, dass wir nicht den Verstand verlieren. Und dass wir miterleben dürfen, wie diese Geschichte endet. – Der vertriebene Akram Al Sorani, Deir el Balah, 4. Juni, 2024.

Der ganze Tagebucheintrag von Akram al Sorani vom 4. Juni 2024

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«Die Geschichten der Menschen in Gaza lassen sich nicht mehr mit dem magischen Realismus eines Gabriel-Garcia-Marquez-Romans erzählen. Ihre Realität ist jenseits jeglicher Vorstellungskraft. Nicht einmal in den dunkelsten Kapiteln der Geschichte ist von so viel Dreck die Rede.

Jeden Tag, in jeder Strasse, in jedem Zelt, in jedem Quartier, schlucke ich meine Tränen runter. Die Feuergürtel nach den Bombardierungen sind grösser denn je. Sie bombardieren so viele Orte gleichzeitig. Der Lärm ist entsetzlich. Die Häuser beben. Die Zelte beben. Der Herzschlag rast. Die Kinder zittern am ganzen Körper.

Wenn Menschen mitten in der Nacht fluchtartig ihr Daheim verlassen müssen, blutet mein Herz. Wir weinen, weil wir hilflos sind. Nur schon Vertreibung ist Krieg.

Krieg ist auch, wenn die Natur ruft. Weniger anständig ausgedrückt: Die Menschen pissen in den Strassen. Wer sich nicht dazu überwinden kann, sein Geschäft öffentlich zu verrichten, macht in die Hosen. Angewidert warten sie, bis es Morgen wird, und dann werfen sie sich mitsamt ihrem Dreck ins Meer, und waschen ihre Kleider.

Einige Glückliche unter uns haben Masken. Sie helfen uns, den Gestank auszuhalten. Einige machen mit Wolldecken, Nylon-Blachen oder Wellblech ein WC-Häuschen. Können Sie sich vorstellen, wie die Menschen sich waschen? Im Freien! Männer und Frauen waschen sich im Freien.

Stellen Sie sich ausserdem unser Essen vor. Es schmeckt nach verbranntem Holz. Und gekochtes Essen ist nicht wirklich eine Mahlzeit. Einige kochen Gerste oder was sie gerade finden können. Die Kinder wissen gar nicht mehr, was Fleisch ist. Scheu fragen sie dich: Stimmt es, dass wir heute vielleicht zwei Pouletflügel ergattern können, wenn ein Hilfskonvoi durchgelassen wird?

Stellen Sie sich ausserdem unsere Strassen vor, die keine mehr sind: Überall fliesst Abwasser, auch durch die Zelte. Sie haben uns in seltsame Kreaturen verwandelt. Wir sind nicht mehr, wie wir einmal waren. Wir erkennen einander, unser Verhalten nicht wieder.

Nacht für Nacht frage ich mich: Was haben wir erreicht mit dem, was wir jeden Tag durchmachen? Wir wissen nicht, wann das Töten, diese Farce, dieses Chaos enden wird. Ich wünsche mir nur, dass wir nicht den Verstand verlieren. Und dass wir vielleicht das grosse Glück haben, das letzte Kapitel von all dem zu sehen, bevor wir uns in Luft auflösen. Der vertriebene Akram Sorani, Deir-el-Balah, 4. Juni, 2024.»

Rendez-vous, 11.06.2024, 12:30 Uhr

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