Die humanitäre Lage in der Stadt Rafah sei desaströs. Das ist die Einschätzung des Internationalen Gerichtshofs. Das höchste UNO-Gericht hat auch deshalb Israel aufgefordert, den Militäreinsatz in Rafah sofort zu beenden. Martin Frick, Leiter des Berliner Büros des UNO-Welternährungsprogramms, über die schwierige Versorgung der Menschen im Süden des Gazastreifens.
SRF: Wie gestaltet sich derzeit die Versorgungslage?
Martin Frick: Die Versorgungslage ist katastrophal. Die beiden wichtigen Grenzen Kerem Schalom und Rafah sind im Prinzip geschlossen beziehungsweise nicht operativ wegen der Kampfhandlungen. Zwar haben wir ganz vorsichtige Zeichen der Entspannung im Norden, aber im Süden gehen jetzt ganz akut die Lebensmittel aus, auch die Medikamente und das Wasser – alles, was Menschen zum Leben benötigen.
Über eine Million Menschen im Gazastreifen sind offenbar in der schlimmsten Kategorie des Hungers.
Nahrungsmittelsituationen werden weltweit von einer unabhängigen Expertenkommission evaluiert. Diese «Integrierte Klassifizierung der Ernährungssicherheitsphasen», kurz IPC, hat fünf Klassements. Fünf ist die schlimmste Kategorie. Und diese unabhängige Expertenkommission sagt, dass über eine Million der 2.4 Millionen Menschen im Gazastreifen in der schlimmsten Kategorie des Hungers sind. Das ist neunmal die Zahl aller anderen Menschen weltweit, die in dieser schlimmsten Stufe des Hungers sind.
Woran scheitert die Verteilung aktuell?
Es wird vor Ort aktiv gekämpft. Lastwagen kommen nicht weiter bis zum Grenzübergang. Lagerhäuser sind beschädigt worden. Es gibt aber auch keinen Treibstoff. Dazu kommt, dass eine ausgehungerte Bevölkerung verzweifelt ist. So ist auch die Sicherheit von Hilfslieferungen oft nicht gewährleistet. Es braucht dringend eine Feuerpause, damit das wieder in geregelte Bahnen zurückkehren kann.
Wie gehen Helferinnen und Helfer mit der schwierigen Situation um?
Das ist extrem hart. Ich möchte in Erinnerung rufen, dass nicht «nur» 35'000 Menschen in diesem Konflikt bereits gestorben sind, sondern dass auch mit über 180 Toten die UNO so in Mitleidenschaft gezogen worden ist, wie wir das seit dem Zweiten Weltkrieg nicht erlebt haben.
Die Vertreibung betrifft diejenigen, die mit uns und für uns arbeiten genauso.
Unsere eigenen Mitarbeitenden sind wiederum von der Vertreibung aus Rafah betroffen. Dort sind über eine Million Menschen, die teils zum vierten, fünften Mal vertrieben worden sind. Und das betrifft diejenigen, die mit uns und für uns arbeiten genauso.
Wer ist eigentlich zuständig für die Versorgung der Menschen in Rafah?
Es ist in erster Linie Israel. Israel gilt international als Besatzungsmacht und diese ist für die menschliche Sicherheit der Bewohner des Gazastreifens zuständig. Aber natürlich kümmert sich die UNO. Es gibt das Flüchtlingshilfswerk für Palästina, das nun seit vielen Jahrzehnten dort arbeitet. Und wir als Welternährungsorganisation leisten selbstverständlich unseren Beitrag in dem Versuch, die extremste Nahrungsmittelunsicherheit im Gazastreifen abzuwenden.
Der von den USA eingerichtete provisorische Hafen für Hilfslieferungen ist derzeit beschädigt und nicht brauchbar. Wie stark fällt das ins Gewicht?
Das fällt ins Gewicht. Wir haben diesen Hafen auch verwendet. Man muss sich aber immer vor Augen halten, dass der Gazastreifen ja ganz regulär über den Landweg zugänglich ist. Wir haben es ja nicht mit einer Naturkatastrophe, einer Überschwemmung zu tun. Wenn es den politischen Willen gäbe und die Grenzübergänge geöffnet würden, dann könnte ohne jede Verzögerung eine grosse Menge Hilfsgüter in den Gazastreifen gebracht werden.
Das Gespräch führte Iwan Lieberherr.
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