Heute wird die Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag dazu erwartet, ob Israel seine Offensive in Rafah im Gazastreifen weiterführen darf. Über die aktuelle Lage vor Ort weiss die frühere SRF-Nahostkorrespondentin und jetzige Auslandredaktorin Susanne Brunner mehr.
Wie ist die Lage in Rafah derzeit?
Die israelische Armee ist nach eigenen Angaben weiter Richtung Stadtzentrum von Rafah vorgestossen. Satellitenaufnahmen zeigen die zerstörten Häuser. Die meisten der über eine Million Menschen, die in Rafah Zuflucht gesucht hatten, sind erneut auf der Flucht – vor den Bombardierungen und dem Vorrücken der israelischen Armee. Viele Menschen wissen allerdings kaum, wo sie noch hin können.
Was sagt die israelische Armee?
Sie habe 180 Hamas-Terroristen getötet sowie mehrere Abschussrampen für Raketen zerstört, welche die Hamas immer wieder auf Israel abfeuert. Solche Erfolgsmeldungen ändern aber nichts an der Tatsache, dass der Kampf gegen die Hamas nach acht Monaten Krieg noch immer sehr zäh ist. Auch werden die «Erfolge» nur mit einer sehr hohen Zahl an zivilen Opfern erzielt. Ein der israelischen Regierung sehr kritisch gegenüberstehender Reservesoldat sagte, dass sich in fast jedem Gebäude bewaffnete Hamas-Kämpfer unter die Bevölkerung mischen. Das macht das Vorrücken der Armee enorm schwierig.
Nimmt die Armee Rücksicht auf Zivilisten?
Die Armee sagt, sie tue alles, um die Zivilbevölkerung in Gaza zu schützen. Auch der Reservesoldat sagt, seine Einheit habe die Menschen vor den Angriffen immer gewarnt. Allerdings ist die Versorgungslage im Gazastreifen katastrophal und einen sicheren Ort gibt es kaum noch. Der Küstenstreifen ist einer der am dichtesten besiedelten Orte der Welt. Dauerbombardierungen bedeuten deshalb immer eine hohe Zahl von Opfern. Ausserdem ist der Häuserkampf für die Soldaten gefährlich. Und wenn man Hamas-Terroristen nicht von Zivilisten unterscheiden kann, werden auch Unbeteiligte getötet.
Wie steht es um Hilfsgüter für Gaza?
Die UNO kann laut eigenen Angaben seit Tagen keine Hilfsgüter mehr verteilen, weil kein Nachschub mehr in den Gazastreifen gelange. Klar ist: Im Gazastreifen herrscht seit Monaten eine akute Hungersnot – und das nicht nur, weil zu wenig Hilfsgüter zur Bevölkerung gelangen, sondern auch, weil der grösste Teil der Bevölkerung kein Geld hat, um etwas zu kaufen, etwa auf dem Schwarzmarkt. Die Weltbank hat gerade gemeldet, dass die palästinensische Bevölkerung im Gazastreifen und im Westjordanland am Rand des wirtschaftlichen Kollapses stehe.
Wie könnte es weitergehen?
Israel steht unter Druck wegen seiner umstrittenen Angriffe in Rafah, auch könnte der Internationale Gerichtshof heute gegen Israel entscheiden. Dass das Land derzeit in der Defensive ist, hat auch mit seiner Regierung zu tun: Es gibt Regierungsmitglieder, die immer wieder unhaltbare Äusserungen von sich geben – indem sie vom «Auslöschen des Gazastreifens» sprechen oder davon, ihn zu besetzen. Und: Mittlerweile scheint klar, dass dieser Krieg ohne Verhandlungen nicht zu beenden ist.