Vor wenigen Tagen traute Akram Surani der Waffenruhe noch nicht. Obwohl Zehntausende die Flüchtlingslager im Süden des Gazastreifens verlassen, um in den Norden zurückzukehren: Er, seine Frau Amani und seine beiden Kinder Khaled und Carmen warten noch.
Auch, weil sie nicht wissen, wie sie die fünfzehn Kilometer vom Flüchtlingslager Deir al-Balah nach Gaza-Stadt mit ihrem Hab und Gut zurücklegen sollen. Zu Fuss scheint der Weg zu gefährlich und beschwerlich, Mitfahrgelegenheiten sind rar.
Anfang Woche schickt der 43-jährige Schriftsteller eine Sprachnachricht mitten in der Nacht: «Wir sind angekommen, in unserer Heimat, in unserem Haus. Ich kann dir unsere Freude gar nicht beschreiben. Unser Haus steht noch!»
Die Sprachnachricht schickt er drei Tage nach der Ankunft seiner Familie in Gaza-Stadt: Vorher habe er keine Internetverbindung gehabt, sagt er. Den Weg hätten sie teils zu Fuss, teils auf dem Dach eines Tuk-Tuks mit anderen Familien und eine Strecke in einem Auto zurückgelegt. Akram Surani hat die Ankunft in Gaza-Stadt in einem Video dokumentiert.
Das Auto, in dem die Familie durch die völlig zerbombte Stadt fährt, hat eine zerborstene Windschutzscheibe, langsam rollt es über die zerstörten Strassen, die mehr Sand als Asphalt sind. Der Schriftsteller gibt dem Fahrer Anweisungen: jetzt rechts, hier links – bis zur Strasse, an der die Familie vor dem Krieg gelebt hat. Hier stehen noch einige Häuser, andere sind schwer beschädigt oder zerstört.
«Gaza-Stadt sieht aus wie ein Skelett»
Die Familie Surani hält den Atem an, als das Auto, ganz langsam, in ihre Strasse einbiegt. Wenige Sekunden später hält es an ihrer Adresse an. Die Familie kann es nicht fassen. Ihr Gebäude steht noch. Die Familie lacht und weint vor Freude.
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Bild 1 von 4. Das Haus steht noch! Akram Surani filmt die Ankunft vor dem Haus in Gaza-Stadt, in dem seine Familie nun wieder leben kann. Bildquelle: zvg/Screenshot Akram Surani.
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Bild 2 von 4. Alles ist so weit unversehrt, auch im Kinderzimmer können die Kinder nach ein wenig Aufräumen wieder schlafen. Bildquelle: zvg/Screenshot Akram Surani.
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Bild 3 von 4. Sogar die Unterlagen des Vaters sind noch auf dem Esstisch der Familie, wo er sie zurückgelassen hat. Khaled zeigt den Ordner dem filmenden Vater freudestrahlend. Bildquelle: zvg/Screenshot Akram Surani.
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Bild 4 von 4. Die Freude über den guten Zustand ihrer Wohnung ist Vater und Sohn anzusehen. Bildquelle: zvg/Screenshot Akram Surani.
Akram Surani beschreibt in der Sprachnachricht die Ankunft in Gaza-Stadt: «Die Stadt sieht aus wie ein Skelett. Die Menschen haben alles verloren. Ich bin zwar durch Gaza-Stadt gefahren, aber ich habe nicht die Stadt gesehen, welche ich kannte.»
Warum sein Haus verschont wurde, weiss der Schriftsteller nicht. Mehr als zwei Drittel aller Gebäude im Gazastreifen wurden schwer beschädigt oder ganz zerstört. Sein Gebäude, und ein paar andere auf seiner Strasse, sehen aus wie auf Bildern nach einer Naturkatastrophe: Inmitten der Zerstörung wird ein Haus verschont – und niemand weiss warum.
Nasser heisst das Quartier, in dem die Familie lebt: ein Quartier, das 1957 gebaut wurde, als der Gazastreifen noch unter ägyptischer Kontrolle war. Vor dem Krieg war es ein Mittelstandsviertel.
Daheim – inmitten der Zerstörung
Auch den Moment, in dem die Familie das Gebäude betritt, hat der Schriftsteller mit seinem Handy dokumentiert. Die Treppe scheint intakt, die Wohnungstür ist aufgebrochen. Aber die Wohnung ist, ausser den zerborstenen Scheiben, noch ganz – und alles scheint noch da zu sein.
Tränen der Freude, Fassungslosigkeit: Fünfmal musste die Familie flüchten, von einem Zeltlager, von einem Zelt ins andere. Nun ist sie daheim. Ein Glück, das die wenigsten im Gazastreifen erfahren.
Der Schriftsteller sagt: «Das Leben der Menschen ist von Not geprägt: Wir haben kaum Wasser, keinen Strom, kein Internet – die Zerstörung ist immens. Aber: Zum ersten Mal seit fast 500 Tagen haben wir in unseren eigenen Betten geschlafen, ohne Tausende von Menschen um uns herum. Ich hoffe nur, dass der Krieg nun vorbei ist.»