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Waffenruheabkommen für Gaza Ein bitterer Deal nach 471 Tagen der Hölle

Mehr als fünfzehn Monate sind vergangen seit dem grauenvollen Morgen des 7. Oktober 2023, als Tausende Palästinenser aus dem Gazastreifen ausbrachen und im Süden Israels Menschen in ihren Häusern mordeten, verbrannten, folterten und vergewaltigten. Es war das grösste Massaker an Jüdinnen und Juden seit dem Holocaust, und der grösste Terroranschlag in der Geschichte Israels.

Geplant hatte ihn Hamas-Chef Yahya Sinwar, der im Herbst 2024 von israelischen Soldaten getötet wurde. Sinwar sass in einem israelischen Gefängnis eine lebenslängliche Haftstrafe ab: Er hatte die Entführung und Ermordung zweier israelischer Soldaten und auch von vier Palästinensern orchestriert, welche er für Verräter hielt. 2011 kam Sinwar trotzdem frei: als einer von 1026 palästinensischen Häftlingen in einem Gefangenenaustausch für den israelischen Soldaten Gilad Shalit, den die Hamas fünf Jahre in Geiselhaft hielt.

Ein berührender, aber auch unerträglich bitterer Moment

Am 7. Oktober 2023 verschleppte die Hamas 251 Menschen aus Israel in den Gazastreifen. 108 kamen während der Waffenruhe im November 2023 frei, im Austausch für 150 palästinensische Gefangene. Seither demonstrierten Angehörige der Entführten Woche für Woche vergeblich für eine erneute Waffenruhe. Heute, 471 Tage nach ihrer Entführung, wurden drei junge Frauen ihren Angehörigen übergeben.

Der Moment berührt ganz Israel, und gleichzeitig ist es er unerträglich bitter. Für jede zivile Geisel, welche die Hamas freilässt, muss Israel 30 palästinensische Häftlinge aus seinen Gefängnissen freilassen. Darunter Frauen und Kinder, die keines Verbrechens beschuldigt worden waren, aber auch Terroristen, welche im Laufe der Jahre Dutzende Israeli ermordet haben. Am Vorabend der Freilassung informierten die israelischen Behörden Angehörige von Terroropfern, dass die Mörder ihrer Liebsten dank dem Deal freikommen würden. Eine Klage der Betroffenen wurde vom Obersten Gericht abgelehnt.

Politische Lösung ist nötig

Unter den freigelassenen palästinensischen Häftlingen ist vielleicht der nächste Sinwar. Ein Hamas-Vertreter hat in den Tagen vor dem Waffenruhe-Abkommen wiederholt, was andere Extremisten der radikal-islamistischen Organisation bereits gesagt hatten: Der 7. Oktober werde sich wiederholen, immer wieder. Obwohl der Gazastreifen zerstört ist, Zehntausende getötet worden sind, und die Mehrheit der 2.3 Millionen Palästinenserinnen und Palästinenser alles verloren haben im Krieg, den Israel seit dem Hamas Massaker vor 15 Monaten im Gazastreifen führt.

Ob nur schon die erste, auf sechs Wochen terminierte Phase der Waffenruhe halten wird, ist unsicher. Ob weitere Geiseln freikommen, ob sie ihren Angehörigen lebend oder in Leichensäcken übergeben werden, weiss niemand. Nur etwas ist sicher: Ohne politische Lösung wird jede Waffenruhe höchstens temporär sein. Gewalt allein, wie dies der aus Protest gegen die Waffenruhe zurückgetretene rechtsradikale Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir fordert, wird weitere Sinwars hervorbringen. Zum Leidwesen beider Völker.

Dennoch: Für die Familien, welche ihre entführten Töchter heute zurückbekommen haben, und für die palästinensische Bevölkerung im Gazastreifen, welche eine Verschnaufpause von den Bomben bekommt, ist der heutige Tag ein langersehnter Moment der Freude.

Susanne Brunner

Leiterin Auslandredaktion

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Susanne Brunner war für SRF zwischen 2018 und 2022 als Korrespondentin im Nahen Osten tätig. Sie wuchs in Kanada, Schottland, Deutschland und in der Schweiz auf. In Ottawa studierte sie Journalismus. Bei Radio SRF war sie zuerst Redaktorin und Moderatorin bei SRF 3. Dann ging sie als Korrespondentin nach San Francisco und war nach ihrer Rückkehr Korrespondentin in der Westschweiz. Sie moderierte auch das «Tagesgespräch» von Radio SRF 1. Seit September 2022 ist sie Leiterin der Auslandredaktion von Radio SRF.

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SRF 4 News, 19.1.2025, 13:30 Uhr

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