Den Versprecher des Jahres leistete sich US-Präsident Joe Biden gestern kurz vor 18 Uhr. Als Gastgeber des Nato-Gipfels in Washington sprach er vor Dutzenden Staats- und Regierungsoberhäuptern, neben ihm wartete der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski auf seinen Einsatz. Biden übergab ihm das Wort: «Meine Damen und Herren – Präsident Putin!»
«Das ist das Ende», twitterte wenige Minuten später Marko Mihkelson, ein bekannter estnischer Politiker, seines Zeichens Nato-Freund und Russland-Kritiker. Der Selenski-Putin-Versprecher markierte gleichwohl nicht das Ende des Abends, sondern vielmehr den Auftakt zu einem Gipfel-Ende mit ein paar weiteren Peinlichkeiten.
Biden vermag Bedenken nicht zu zerstreuen
In der Pressekonferenz, die folgte, verwechselte Biden gleich in der Antwort auf die erste Journalistenfrage wieder zwei Namen, die ihm geläufig sein sollten: Er sprach von seiner Vizepräsidentin, nannte sie aber nicht «Harris», sondern «Trump».
59 Minuten dauerte die Pressekonferenz, sie beinhaltete ein paar weitere Versprecher und Aussetzer. Gemessen an den schlimmsten Befürchtungen seiner Anhängerschaft schlug sich Biden zwar einigermassen okay, er beantwortete alle Fragen, lieferte Erklärungen. Doch die Bedenken bezüglich seines Gesundheits- und Sinneszustands vermochte er nicht zu zerstreuen.
Dabei hatte er die Gipfel-Bühne eigentlich nutzen wollen, um sich knapp vier Monate vor den US-Wahlen als starker Mann der Nato zu präsentieren – und zwar der Wählerschaft zu Hause, den Menschen in den 31 verbündeten Nato-Staaten, aber auch den Eliten in Feindstaaten wie Russland oder China.
Der Nato stehen schicksalshafte Jahre bevor
Nun aber steht Biden sinnbildlich für eine Militärallianz, die 75 Jahre nach ihrer Gründung zwar relevant, gross und stark ist wie selten zuvor in ihrer Geschichte. Der aber eben auch schicksalshafte Monate und Jahre bevorstehen.
Viele Nato-Staaten, namentlich in Mittel- und Osteuropa, fürchten nämlich, dass der russische Präsident Wladimir Putin die Drohungen seiner Propagandamaschinerie eines Tages wahrmachen und auch sie angreifen könnte. Die alles entscheidende Frage wäre dann, ob und in welchem Umfang die USA ihren Verbündeten militärisch zur Seite stünden.
Kaum ein amerikanischer Präsident der jüngeren Geschichte war der Nato mehr zugetan als Joe Biden. Doch mit seinem sturen Festhalten an einer erneuten Kandidatur im November könnte er den Weg für eine zweite Amtszeit von Donald Trump ebnen – und damit der Nato einen Bärendienst erweisen.
Trump könnte Putin wirklich willkommen heissen
Trump würde dem Bündnis zwar kaum den Rücken zukehren, zu nutzbringend sind die wachsenden Rüstungsausgaben der 31 anderen Nato-Staaten für die amerikanische Rüstungsindustrie.
Doch Trump hat angekündigt, in der Ukraine innert 24 Stunden Frieden machen zu wollen. Und das würde wohl nichts anderes heissen, als gegen den Willen Selenskis einen Teil der Ukraine Russland zuzuschlagen und die Waffenlieferungen einzustellen.
Nato-Staaten wie Estland, Lettland oder Litauen sähen darin geradezu eine Einladung an Putin, auch andernorts seine imperialen Träume auszuleben. Sie fürchten, dass Trump als Präsident tatsächlich Putin willkommen heissen würde – nicht nur in der Form eines Versprechers.