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Nato-Gipfel in Washington Zusammen gegen China, Russland & Co.

Zumindest ein Problem, das die Nato nach dem Ende des Kalten Krieges umtrieb, hat sie nicht mehr: die Sinnsuche. An einer «Raison d'être» fehlt es dem Bündnis heute nicht. Die Nato ist in der Bevölkerung der allermeisten Mitgliedsländer so beliebt wie schon lange nicht mehr. Dem Kreml sei Dank.

Ukraine: Aktivismus statt klare Strategie

Man kann der Nato auch nicht vorwerfen, sie habe auf ihrem Washingtoner Gipfel nichts entschieden – im Gegenteil. Neue Waffensysteme für die Ukraine, mehr Finanzhilfe, eine höhere Rüstungsproduktion, bessere Verteidigungsfähigkeiten in Europa... All das soll zeigen: Wir handeln.

Doch gerade in Sachen Ukraine geschieht das ohne klare Strategie und wird so zu Aktivismus. Die Ukraine erhält zwar mehr – genug zum Überleben, aber zu wenig zum Siegen. Die Ukraine-Hilfe ist, wie Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg betont, beispiellos. Sie reicht dennoch nicht aus.

Und für die entscheidende Weichenstellung fehlt der Konsens, nämlich die Ukraine in die Nato aufzunehmen – zumindest mit dem Territorium, das sie derzeit kontrolliert. Die nach Aussen demonstrierte Entschlossenheit verwässert die Nato selber mit Zögern und Zaudern.

Dies zu einem Zeitpunkt, da es für die Nato nicht länger nur um die Ukraine und Russland geht. Ihr gegenüber entsteht ein formidabler, antidemokratischer und äusserst potenter Machtblock: Die Diktaturen China, Russland, Iran, Belarus und Nordkorea rücken immer enger zusammen. Just während sich die Spitzen der Nato-Staaten am Potomac versammelten, führte China an der Grenze zu Polen Militärmanöver mit Belarus durch. Eine starke Botschaft – und nur eine unter vielen.

Neue Weltordnung zeichnet sich ab

Die Zeiten, da sich die Nato ausschliesslich als transatlantische Allianz verstand, sind wohl vorbei. An Nato-Gipfeln sind Staats- und Regierungschefs aus Japan, Südkorea oder Australien seit kurzem regelmässige Gäste. Sie suchen Anschluss.

Nato-Gipfelbeschlüsse adressieren neuerdings neben dem deklarierten Hauptgegner Russland auch China. In Washington so scharf wie bis anhin noch nie. Peking wird im Ukraine-Krieg als Moskaus Komplize bezeichnet. Die autoritären Widersacher werden beschuldigt, die auf dem Völkerrecht basierende Weltordnung auszuhebeln. China reagiert empört auf die seiner Ansicht nach von «Böswilligkeit, Vorurteilen und Provokationen» strotzende Nato-Erklärung.

Wir erleben gerade, wie die Weltordnung neu sortiert wird. Es zeichnet sich eine neue globale Konfrontationslinie ab. Die künftige Machtbalance ist noch nicht etabliert. Der Westen und das demokratische Lager werden nicht zwingend die Oberhand behalten. Das zwingt auch die USA und die Europäer und damit die Nato, sich neu aufzustellen.

Wird ein Militärbündnis wieder relevanter und immer grösser, ist das nicht wirklich erfreulich. Es spiegelt jedoch die geopolitische Realität.

Fredy Gsteiger

Diplomatischer Korrespondent

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Fredy Gsteiger ist diplomatischer Korrespondent und stellvertretender Chefredaktor bei Radio SRF. Vor seiner Radiotätigkeit war er Auslandredaktor beim «St. Galler Tagblatt», Nahost-Redaktor und Paris-Korrespondent der «Zeit» sowie Chefredaktor der «Weltwoche».

Hier finden Sie weitere Artikel von Fredy Gsteiger und Informationen zu seiner Person.

Echo der Zeit, 11.07.2024, 18:00 Uhr

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