Der Corona-Gipfel der EU-Staaten geht am späteren Montagnachmittag in die Verlängerung. Die Nerven liegen nach dreitägigen Verhandlungen blank. Ein neuer Vorschlag liegt auf dem Tisch.
SRF News: Offenbar gab es Gehässigkeiten und persönliche Angriffe. Was können Sie zur Stimmung sagen?
Michael Rauchenstein: Der französische Präsident Emmanuel Macron und die deutsche Kanzlerin Angela Merkel sollen gestern mit der Faust auf den Tisch gehauen haben, war zu hören. Wiederholt soll zudem der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte angegriffen worden sein, der in Brüssel die härteste Linie fährt. Bulgariens Premierminister Bojko Borissow soll Rutte bei einem Abendessen als «Polizisten von Europa» beschimpft haben.
Bulgariens Premier Bojko Borissow soll Rutte bei einem Abendessen als ‹Polizisten von Europa› beschimpft haben.
Die Reicheren zahlen für die Ärmeren – das ist ein Grundprinzip der EU. Rutte will nur zahlen, wenn er mitreden kann. Bahnt sich in der EU-Finanzpolitik ein Systemwechsel an?
Das ist schwierig zu sagen. Die Forderungen Ruttes betreffen den Wiederaufbaufonds – nicht zurückzahlbar und für Staaten wie Italien oder Spanien. Rutte wie auch Österreichs Kanzler Sebastian Kurz beharren darauf, dass die Gelder kontrolliert in Reformprojekte zum Wiederaufbau nach Corona fliessen.
Die Niederlande, Österreich, Schweden und Dänemark treten als die «Sparsamen Vier» auf, unterstützt von Finnland. Warum sind Rutte und Kurz besonders laut?
Bei Mark Rutte geht es vor allem um nationalstaatliche Politik, muss er doch im Frühling Wahlen in den Niederlanden gewinnen. Zudem hat er die Rechtspopulisten um Geert Wilders im Nacken. Sebastian Kurz hat sich von Anfang an gegen diese Zuschüsse gewehrt und war sogar die Leitfigur der «Sparsamen Vier». Diese Rolle hat nun Rutte übernommen, während sich Kurz in den Verhandlungen mittlerweile konzilianter zeigen soll als in der Öffentlichkeit.
Deutschland steht auch eher für Sparpolitik ein. Warum setzt sich Merkel mit Macron vehement für eine grosszügigere Lösung ein?
Die Kanzlerin hat wohl relativ rasch gemerkt, dass man auf den Süden Europas zugehen muss. Zu Beginn der Coronakrise hatten Italien und auch Frankreich Corona-Bonds gefordert, bei denen es um eine gemeinsame Verschuldung der EU ging. Das wollte Merkel auf keinen Fall. Aber bei den Zuschüssen zum Wiederaufbaufonds macht sie nun sogar einen Schritt auf Italien und Spanien zu. Zudem hat Deutschland für ein halbes Jahr die EU-Ratspräsidentschaft inne und ist in der Vermittlerrolle. Diese Rolle wäre wohl sehr schwierig geworden, hätte Merkel mit den sparsamen Ländern mitgezogen.
Deutschland ist mit der EU-Ratspräsidentschaft für ein halbes Jahr in der Vermittlerrolle.
Der Gipfel gilt als einer der bisher schwierigsten der Union. Nimmt die EU längerfristig Schaden?
Das hängt von der Perspektive ab. Dass die Staats- und Regierungschefs an einem EU-Gipfel nicht zimperlich miteinander umgehen, ist normal. Aber gerade der Wiederaufbaufonds sollte ein Instrument der Solidarität für die von Corona stark betroffenen Staaten sein. Wenn nun die «Sparsamen Vier» samt Finnland die Zuschüsse seit Tagen drücken, sorgt das tatsächlich für sehr viel Unmut. Falls es doch noch einen Kompromiss gibt, wird man wohl versöhnlicher auseinandergehen, als wenn man sich Ende Juli oder gar im August noch einmal treffen müsste.
Der Gipfel wird am Nachmittag fortgesetzt: Wie schätzen Sie die Chance auf einen Kompromiss ein?
Ab 16 Uhr sollte ein neuer Vorschlag von EU-Ratspräsident Charles Michel vorliegen. Ich gehe davon aus, dass heute ein Kompromiss möglich ist, denn sonst wären die Verhandlungen wohl spätestens heute Morgen abgebrochen worden.
Das Gespräch führte Brigitte Kramer.