An den 26. Juli 2012 erinnert sich niemand und gleichzeitig jeder. Es war der Tag, an dem Mario Draghi, damals Chef der Europäischen Zentralbank EZB erklärte: Die EZB werde alles tun, um den Euro zu bewahren. Damals war das Ende der europäischen Währung eine reale Möglichkeit. Damals drohte manchen EU-Ländern der Staatsbankrott, der Austritt aus dem Euro, die EU-Regierungen waren zerstritten, ein Überspringen der Krise auf die gesamte EU schien möglich zu sein.
Draghis Worte schlugen wie eine Bombe an den Börsen ein. Die stark gestiegenen Zinsen auf Staatsanleihen fielen sturzartig, die Börsenkurse stiegen steil, der Euro stabilisierte sich. Die Märkte interpretierten Draghis Worte als Blankoscheck der EZB. Doch zu lange hielt die EZB danach an dieser gefährlichen Politik des billigen Geldes fest, auch ein Grund für die heutige hohe Inflation, neben Corona und dem Ukraine-Krieg.
Ich bin ein Mann – oder besser gesagt ein Grossvater – im Dienste des Staates.
Im Februar 2021 wurde der einstige EU-Notbankchef von Staatspräsident Sergio Mattarella zum Ministerpräsidenten von Italien berufen. Die Regierung von Giuseppe Conte von den Fünf Sternen mit den Sozialdemokraten war zerstritten, der Staatspräsident wollte Neuwahlen mitten in der Corona-Krise vermeiden. Draghi wurde zum Ministerpräsidenten einer sehr breit abgestützten, aber ebenso heterogenen Regierung der nationalen Einheit, politisch links bis rechts. Er war kein Politiker, sondern ein Finanzexperte. «Ich bin ein Mann – oder besser gesagt ein Grossvater – im Dienste des Staates», sagte der 75-Jährige anfangs 2022 kokettierend.
Seine grosse Erfahrung und seine internationale Vernetzung, vor allem innerhalb der EU, also die Person Draghi, seien das grösste Kapital dieser Regierung gewesen, und die aussenpolitische Bilanz deshalb sehr positiv, meint Marco Valbruzzi vom renommierten Forschungsinstitut Carlo Cattaneo von der Universität Bologna.
Im Ukraine-Krieg verlässlicher Partner des Westens
Und Draghi erwies sich im Ukraine-Krieg als verlässlicher Partner des Westens. Innenpolitisch war sein Programm die Umsetzung des 200 Milliarden Coronahilfsfonds der EU für eine umfassende Reform Italiens.
Die konkrete Umsetzung der Reformen sei weniger erfolgreich gelungen, bilanziert Marco Valbruzzi. Ein Problem sei die fast unreformierbare Bürokratie, analysiert der Politologe; in der Tat: Auf nationaler Ebene hat Italien rund 110'000 Gesetze, die Schweiz gut 5000.
Draghis Stärke und zugleich Schwäche war, dass er kein Politiker, sondern ein Experte von grossem Ansehen war und sich auch so sah.
Regierungen kommen und gehen, Italien bleibt.
Kurz vor der Vertrauensabstimmung in diesem Sommer sagte er, er fühle sich nur und ausschliesslich den Italienerinnen und Italienern verpflichtet. Draghi gewann zwar diese Vertrauensabstimmung, aber mit weit weniger Zustimmung als erhofft und reichte seinen Rücktritt ein. Ein ausgebuffter Politiker, wie früher beispielsweise in den Reihen der Democrazia Christiana, hätte seine solche Krise einfach ausgesessen.
Draghi selbst zieht eine positive Bilanz, die Wirtschaft sei deutlich gewachsen. «Regierungen kommen und gehen, Italien bleibt», sagte er nach seiner letzten Kabinettssitzung. Italien sei stabil, auch ohne ihn, war die Botschaft, aber man könnte daraus auch den pessimistischen Schluss ziehen, dass Italien unreformierbar sei, egal wer regiert. Draghi verabschiedete sich gestern beim EU-Gipfel in Brüssel spektakulär unspektakulär, wie es seinem Stil entspricht.