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Österreich in Schieflage «Herbert Kickl ist eine Gefahr, mit der man leben muss»

Wohin steuert Österreich – und mithin der ganze Kontinent? Der Publizist Paul Lendvai über ein Europa am Scheideweg.

Paul Lendvai lebt über den Dächern von Wien und hat als 96-jähriger Publizist den Überblick über den Gang der Zeiten. Geboren 1929 in Budapest, vor dem Holocaust gerettet vom Schweizer Konsul Carl Lutz, 1956 aus dem kommunistischen Ungarn geflohen, als renommierter Publizist und überzeugter Sozialdemokrat bis heute in Wien tätig.

Sein neuestes Buch heisst «Über die Heuchelei» – und darin hat auch Österreich seinen Platz. Lendvai kennt viele Politiker von Viktor Orbán bis Sebastian Kurz, und ja, auch den Chef der rechtspopulistischen FPÖ, Herbert Kickl. «2021 hab ich ihn für mehrere Stunden getroffen», erzählt Lendvai. «Es war ein sehr gutes Gespräch. Er hat sogar ein Bild von uns gemacht und mir als Geschenk die Geschichte der FPÖ geschickt.»

Doch abgesehen von Anekdoten, wie gefährlich ist Kickl? «Er ist potenziell eine Gefahr», antwortet Lendvai. «Aber damit muss man nicht nur in Österreich leben.»

Paul Lendvai
Legende: Der langjährige politische Kommentator und TV-Moderator Paul Lendvai ist der «Grand Old Man» der österreichischen Publizistik. Keystone/APA/Robert Jäger

Worin besteht dann die Gefahr für Österreich? Als Anhänger der bewaffneten Neutralität glaube er nicht, dass Österreich direkt von einem Angriff bedroht sei. «Ich glaube aber, dass Österreich durch die unklare Haltung von Teilen der Wirtschaft und Politik gegenüber der russischen Diktatur und dem Putin-Regime bedroht ist.» Diese unklare Haltung speise sich auch aus der Agitation der FPÖ, schliesst der renommierte Publizist.

Seit Jörg Haider ist die FPÖ ein Faktor der Zerstörung der demokratischen Ordnung.
Autor: Paul Lendvai Österreichischer Publizist

In Österreich spricht man über Gefahren ein bisschen gelassener als anderswo. Lendvai glaubt, dass die wahrscheinlich neue österreichische Regierung von ÖVP, SPÖ und liberalen Neos halten wird, weil die drei Parteien nun erkannt haben, dass es keine Alternative gibt, um die bestehende Zweite Republik Österreich zu erhalten.

Durchbruch bei Koalitionsverhandlungen?

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Womöglich werden sich die konservative ÖVP, die sozialdemokratische SPÖ und die liberalen Neos schon am Mittwoch auf ein gemeinsames Regierungsprogramm einigen. Am nächsten Montag könnte die neue Regierung vereidigt werden – fünf Monate nach der Wahl. «Sie haben aus den Erfahrungen gelernt und wissen, dass sie keine andere Alternative haben», schätzt Paul Lendvai.

Er glaube nicht, dass die Neos zum zweiten Mal aus den Koalitionsverhandlungen aussteigen würden. «Und es ist im Lebensinteresse der beiden grösseren Parteien, dass sie die kommenden Jahre durchstehen.» Angesichts der Möglichkeiten, die sich in Wien zu Regierungsbildung bieten würden, sei diese Dreierkoalition das kleinste Übel, schliesst der Publizist.

Die österreichische FPÖ und die deutsche AfD sehen sich als Schwesterparteien. In Österreich ist die FPÖ seit Jahrzehnten etabliert. Was kann Deutschland also von Österreich im Umgang mit der AfD lernen? «Nur Schlechtes», sagt Lendvai. «Österreich hat schon seit der Zeit von Bruno Kreisky (Sozialdemokrat und Bundeskanzler von 1970 bis 1983, Anm. d. Red.) zu oft mit dieser Partei koaliert.»

Damals habe es ausgeschaut, als könnte sich die FPÖ zu einer liberalen, freiheitlichen Partei entwickeln. «Seit Jörg Haider ist die FPÖ aber ein Faktor der Zerstörung der demokratischen Ordnung», findet Lendvai. Die FPÖ in die Politik einzubinden, habe nichts gebracht.

Droht Europa im Krieg zu versinken?

Lendvai kann auf ein langes Leben zurückblicken, auf Kriege und Disruptionen. Wie hoch schätzt er heute die Gefahr eines Krieges in Westeuropa ein? «Wenn wir von Jahrzehnten reden, halte ich das nicht für ausgeschlossen.» Nach den Erfahrungen des Ukraine-Krieges und der Einschätzung der militärischen Fähigkeiten Russlands brauche man sich davor aber gegenwärtig nicht zu fürchten. «Allerdings nur, wenn die politische Elite Europas die Gefahr begreift. Dann hat man genug Menschen, Kraft und Geld, um sich vorzubereiten.»

Interessanterweise sieht Lendvai Europa wie der amerikanische Vizepräsident J.D. Vance von Innen bedroht. Allerdings nicht wegen fehlender Meinungsfreiheit und Demokratie, sondern wegen der Ignoranz seiner Eliten. Lendvai fürchtet, dass diese nicht fähig sind, weiter als bis zu den nächsten Wahlen zu denken: «Womöglich übersehen sie so die gewachsenen Gefahren durch Russland und aus Übersee. Das könnte zur politischen Ernüchterung beitragen, dass das Wichtigste zuerst getan werden muss.»

Echo der Zeit, 25.02.2025, 18 Uhr

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