Der Krieg hat die ukrainische Gesellschaft zusammengeschweisst. Die Menschen eint ihre Ablehnung der russischen Invasion, auch die Politikerinnen und Politiker demonstrieren Einigkeit – so scheint es wenigstens. Tatsächlich werde die politische Opposition wohl erst nach dem Krieg wieder wichtig im Land, sagt der Journalist Denis Trubetskoy.
SRF News: Sind in der Ukraine alle politischen Debatten und Streitthemen auf die Nachkriegszeit verschoben?
Denis Trubetskoy: Sicher gibt es Fragen, die derzeit tabu sind und nicht diskutiert werden. Dazu gehört etwa jene, wie es zu Kriegsbeginn Ende Februar möglich war, dass man die Stadt Cherson im Süden so schnell an die Russen verlieren konnte. Oder die Frage, ob man grundsätzlich genügend auf den Krieg vorbereitet war. Doch es gibt auch Debatten, die durchaus geführt werden, wie etwa jene im Zusammenhang mit der aktuellen Stromkrise – auch wenn das etwas im Hintergrund geschieht.
Wie stabil ist das Zusammenstehen in der Ukraine?
Es gibt sicher Unterschiede, ob es die Gesellschaft oder die Politik betrifft. In der Politik täuscht die Einigkeit wohl etwas. Im Westen herrscht der Eindruck vor, die politische Elite stehe hinter Präsident Wolodimir Selenski. Doch dieser arbeitet mit kaum jemandem ausserhalb seines Teams zusammen.
Selenski arbeitet mit kaum jemandem ausserhalb seines Teams zusammen.
Er lehnte etwa Hilfsangebote von Ex-Präsident Petro Poroschenko ab. Die Oligarchen haben ebenfalls keine Möglichkeit, auf Selenski Einfluss auszuüben – auch wenn sie wegen des Krieges viel Geld verloren haben und grosse Summen für die Armee spenden müssen.
Wie gehen die oppositionellen Parteien mit der Tatsache um, an der Regierung während des Kriegs kaum Kritik üben zu können?
Oppositionspolitiker wie Poroschenko oder Julia Timoschenko wirken etwas aus der Zeit gefallen. Sie werden den Krieg wohl nicht als grosse politische Figuren überleben. Weil Selenski so stark erscheint, halten sie sich jetzt mit direkter Kritik zurück und greifen ihn bloss indirekt an, etwa, indem sie seinen Stabschef Andrij Jermak kritisieren oder alle militärischen Erfolge ausschliesslich Oberbefehlshaber Waleri Saluschni zuschreiben.
Wie gross ist dabei das politische Risiko für Selenski? Denn wenn etwas schieflaufen sollte, fällt das dann auf ihn allein zurück.
Dass Selenski jetzt so unangefochten an der Spitze steht, könnte sich nach dem Krieg rasch ändern. Inzwischen stehen zahlreiche neue Figuren in der Öffentlichkeit, die dereinst vermutlich mit Selenski konkurrieren werden.
Nach dem Krieg werden die Zustimmungswerte für Selenski sicher tiefer sein als jetzt.
Und nach dem Krieg werden auch die jetzigen Tabuthemen im Zusammenhang mit den Kriegsvorbereitungen oder dem Kriegsverlauf gross diskutiert werden. Dann werden die Zustimmungswerte für Selenski sicher tiefer sein als jetzt – auch wenn er die nächste Präsidentenwahl 2024 gewinnen dürfte, falls er daran teilnimmt.
Wer könnte Selenski denn herausfordern bei den Wahlen 2024?
Oberbefehlshaber Saluschni ist wirklich sehr beliebt – auch wenn er sich bisher völlig aus der Politik herausgehalten hat. Zudem gibt es einige Gouverneure, die stark an Beliebtheit gewonnen haben und auch in der nationalen Politik bald eine wichtige Rolle spielen könnten. Und auch im Oppositionslager, das früher von Poroschenko angeführt wurde, tauchen neue Köpfe auf, die sich stark engagieren – etwa in Spendenaktionen.
Das Gespräch führte Christina Scheidegger.