Er ist das Enfant terrible der EU: Ungarns Regierungschef Viktor Orban. Mit Besuchen beim russischen Präsidenten Wladimir Putin, dem chinesischen Staatschef Xi Jinping oder US-Präsidentschaftskandidat Donald Trump sorgt Orban erneut EU-weit für Verstimmung.
EU-Chefdiplomat Josep Borrell hat darauf ein EU-Treffen in Ungarn boykottiert. Dies wiederum sorgte für Kopfschütteln bei anderen Mitgliedsländern. Daniel Hegedüs ist politischer Analyst beim US-amerikanischen Think-Tank «German Marshall Fund» und erklärt, warum Josep Borrell gleich zu einem Boykott greift, wo doch die Konfrontation in der Diplomatie nicht gerne gesehen ist.
SRF News: Ist Josep Borrells Reaktion übertrieben?
Daniel Hegedüs: Premierminister Orban hat die Kompetenzen von Josep Borrell übernommen. Die rotierende Ratspräsidentschaft vertritt die EU nicht in aussenpolitischen Angelegenheiten. Das sind ausschliesslich die Kompetenzen von Herrn Borrell, der Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, und des Präsidenten des Europäischen Rates, Charles Michel. Auf so eine eindeutige Provokation muss man klare Antworten finden. Herr Borrell hat diesbezüglich nicht ohne diplomatische Fähigkeiten agiert.
Ist es in der Diplomatie nicht grundsätzlich schwierig, auf Konfrontation zu gehen, weil man Gefahr läuft, weniger zu erreichen, als man will?
Die Konfrontation kommt eindeutig von der Ecke der ungarischen Regierung und Premierminister Orban. Und das schon seit Jahren. Besonders seit der russischen Invasion in der Ukraine blockiert Ungarn ständig militärische und finanzielle Hilfe für die Ukraine und probiert, die Sanktionspakete gegenüber Russland zu verzögern. Letztes Jahr stellte sich die Frage, ob Ungarn überhaupt die Ratspräsidentschaft einnehmen darf. Nach den ersten Provokationen haben mehrere Mitgliedsstaaten auch überlegt, ob die Ratspräsidentschaft Ungarn entzogen werden könnte. Im Vergleich dazu blieb die Reaktion von Josep Borrell weit hinter den Eskalationsmöglichkeiten, die er noch in den Händen hat.
Diverse EU-Staaten haben bei diesem Boykott nicht mitgezogen. Ist diese Uneinigkeit in der EU nicht das Hauptproblem, weshalb man Viktor Orban nicht in den Griff bekommt?
Es ist schwierig, diese Uneinigkeit zu überwinden. Solange es ein zentrales Problem ist, wie die Kompetenzen zwischen der EU und den Mitgliedsstaaten verteilt sind – solange diese ihre uneingeschränkte Souveränität in der EU als eine politisch heilige Kuh wahrnehmen –, sehe ich nicht die Möglichkeit, dass man praktische Lösungen findet. Um ein anderes Beispiel zu erwähnen: Seit Langem diskutieren Mitgliedstaaten, dass aussenpolitische Entscheide der EU mit einer qualifizierten Mehrheit und nicht mit politischem Konsens getroffen werden sollten. Die Diskussion klingt sehr wichtig und scheint auch zeitlich dringend. Aber wir sehen keine Fortschritte, weil das mit einer Begrenzung der Souveränität der Mitgliedsstaaten einhergehen würde. Darauf ist der politische Appetit ziemlich begrenzt.
Ist der Fall Orban für die EU präzedenzlos?
Was wir hier sehen, ist mehr oder weniger präzedenzlos. Kein europäischer Mitgliedstaat hat bisher die Institution der rotierenden Ratspräsidentschaft so für eigene politische Zwecke missbraucht und auf eine Art und Weise, die ganz eindeutig die aussen- und sicherheitspolitischen Interessen der europäischen Integration verletzt.
Das Gespräch führte Nico Bär.