Die Parlamentswahlen: Noch sind die Resultate der Parlamentswahlen in Belarus vom Wochenende nicht bekannt. Neu wurde auch eine Volksversammlung gewählt. Doch niemand zweifelt, dass der seit 30 Jahren amtierende Präsident Alexander Lukaschenko seine Macht behält. Es gab weder Proteste noch Gegenkandidaturen zu den Begünstigten des Lukaschenko-Systems. Westliche Wahlbeobachter waren nicht zugelassen. Erneut ist von unfreien und unfairen Wahlen die Rede. Die verstärkte Repression hat die Zivilgesellschaft erstickt.
Das Trauma von 2020: Nach den Wahlen von 2020, als Lukaschenko die Massenproteste Hunderttausender mit Hilfe Russlands niederschlagen konnte, hatte er vorgesorgt und die Opposition völlig kaltgestellt. Wichtige Figuren wie etwa Swetlana Tichanowskaia sind im Exil. 35'000 Menschen wurden nach 2020 verhaftet. Bis heute sitzen viele unter schlimmsten Bedingungen isoliert in Gefängnissen. Von vielen gibt es seit über einem Jahr kein Lebenszeichen. Darunter sind auch die führende Oppositionelle Maria Kolesnikowa und Tichanowskajas Mann Sergej Tichanowski. Die Zahl der Exil-Belarussinnen und Belarussen wird auf ungefähr eine halbe Million geschätzt. Hunderttausende durften damit nicht wählen, die gegen Lukaschenko sind. Die im Land Verbliebenen sind eingeschüchtert.
Die neue Volksversammlung: Die neue Volksversammlung war nach den Massenprotesten von 2020 konzipiert worden. Sie soll aus 1200 handverlesenen Mitgliedern aus den verschiedenen Regionen, Regierungsorganen und Wirtschaftssektoren bestehen. Mit einem Präsidium an der Spitze und einem Vorsitzenden in der Person von Alexander Lukaschenko. Das Regime verkauft die Volksversammlung als Reform, um das Volk auf höchster Ebene besser zu repräsentieren. Aus demokratischer Sicht ist diese Volksversammlung sehr fragwürdig. Denn sie steht über dem Parlament und kann etwa das Kriegsrecht ausrufen, Regierungsentscheide rückgängig machen oder gar Wahlresultate annullieren.
Das Ziel von Lukaschenko: Präsident Lukaschenko hat bereits angekündigt, dass er bei den nächsten Wahlen wieder antreten will. Unabhängige belarussische Politologinnen und Politologen deuten die Volksversammlung als Schritt, das System auf eine Zeit nach Lukaschenko vorzubereiten. Vielleicht tritt er dereinst als Präsident zurück, kontrolliert das Land aber weiterhin als Vorsitzender der Volksversammlung. Oder er stirbt und hinterlässt einen Mechanismus, mit dem das Regime jegliche politische Gegenströmung ausschalten kann.
Die Rolle von Russland: Russland hat das Lukaschenko-Regime nach den Massenprotesten von 2022 quasi gerettet. Entsprechend ist der 69-jährige Diktator sehr abhängig vom Kreml. Immer wieder war vor allem auf russischer Seite die Rede davon, Belarus noch mehr in die Russische Föderation zu «integrieren». Vor 2020 hatte Lukaschenko immer versucht, Eigenständigkeit gegenüber Russland zu wahren und auch Kontakte zu Europa unterhalten. Damit ist jetzt Schluss. Da er offenbar das Regime nach seinem eigenen Abgang erhalten will, spricht dafür, dass er die Unabhängigkeit von Belarus nicht ganz aufgeben will. Aber effektiv ist das Lukaschenko-Regime schon heute eine russische Besatzungsmacht in einem Land, das Lukaschenko schon lange weg haben will.