In Warschau wird demonstriert. Die Frauen sind empört, dass legale Abtreibungen in Polen praktisch nicht mehr möglich sein werden. Die Folge eines Urteils des polnischen Verfassungsgerichts.
Aber die Demonstrantinnen marschieren nicht zum Gericht, sie marschieren zu einem unauffälligen grauen Einfamilienhaus im Norden Warschaus – zu dem Haus, in dem Jaroslaw Kaczynski und seine Katze leben.
Für die Demonstrantinnen ist klar: Die Entscheidung, Abtreibungen sogar bei schweren Missbildungen des Fötus zu verbieten, geht letztlich auf den Chef der polnischen Regierungspartei zurück.
Gewiefter Taktiker
Auch Ludwik Dorn sieht das so. Er war vor 20 Jahren mit dabei, als Jaroslaw und sein Zwillingsbruder Lech Kaczinsky die heutige Regierungspartei gründeten. Dorn war Innenminister; er galt als der dritte Kaczynski-Zwilling – bis er sich mit Jaroslaw Kaczinsky überwarf.
Heute sagt Dorn: Die Verschärfung des Abtreibungsverbots sei vor allem ein taktisches Manöver: «Kaczinskys Kontrolle über seine Partei wurde in letzter Zeit infrage gestellt. Jetzt will er diese Kontrolle wieder festigen.»
Unter Druck kam der «Pan Prezes», der Herr Vorsitzende, vor allem vom rechten Flügel seiner Partei. Und von den katholischen Bischöfen. Zusammen forderten sie, dass er sein altes Versprechen, das Abtreibungsrecht zu verschärfen, endlich einlöse.
Um den Druck zu erhöhen, klagten sie beim Verfassungsgericht gegen das bisherige, auch schon strenge Abtreibungsgesetz. Kaczynski selbst habe früher im Parlament immer wieder für schärfere Abtreibungsregeln gestimmt, sagt Dorn. Aber gleichzeitig habe er jeweils hinter den Kulissen dafür gesorgt, dass es dafür keine Mehrheit gab.
Gespür für das politisch Machbare
Der Taktiker Kaczynski habe immer gewusst: Eine Ausweitung des Abtreibungsverbots würde auch viele konservative Wählerinnen empören und riesige Proteste auslösen. «Aber jetzt ist Kaczynski zum Schluss gekommen, dass er das nicht länger aufschieben kann, ohne dass seine Partei auseinanderfallen würde.» Zudem habe er damit gerechnet, dass die Proteste wegen der Pandemie schnell verstummen würden.
Kaczynski hat die Partei gross gemacht. Er hat jenes Programm aus erzkatholischen Werten, aus viel Nationalstolz und viel Kindergeld gezimmert, das viele Polen seit Jahren überzeugt.
Eine Fehleinschätzung: Allein in Warschau sind Hunderttausende auf die Strasse gegangen, die Regierungspartei ist so unbeliebt wie seit Jahren nicht mehr. Kaczynski ist wütend: «Die Demonstrationen sind eine Attacke, um Polen zu zerstören. Am strengeren Abtreibungsverbot kann nicht gerüttelt werden.»
Ein typisches Kaczynski-Manöver, sagt Dorn, der einstige Weggefährte. Der Vorsitzende der Regierungspartei habe ein sehr feines Gespür für das politisch Machbare. Er könne gnadenlos sein, wenn der Widerstand zu gross ist, sei er aber auch zu raschen Spitzkehren fähig.
Kaczynski ist Dreh- und Angelpunkt der Regierungspartei, sagt Dorn. «Kaczynski hat die Partei gross gemacht. Er hat jenes Programm aus erzkatholischen Werten, aus viel Nationalstolz und viel Kindergeld gezimmert, das viele Polen seit Jahren überzeugt – vor allem jene, die sich von früheren Regierungen im Stich gelassen fühlten.»
Ohne Kaczynski würde die Regierungspartei rasch auseinander brechen, ist Dorn überzeugt. Kaczynskis Vereidigung als Minister war ein Sinnbild für seine Macht: Als einziger trug er keine Gesichtsmaske, als einziger posierte Kaczynski nicht für das Gruppenfoto der neuen Regierung. Die Botschaft: Auch als Minister bin ich nicht einer von euch. Ich bestimme über euch.