In Grossbritannien fehlen Lastwagenfahrerinnen und -fahrer. Das könnte auch länger so bleiben. Premierminister Boris Johnson sagte am Sonntag, die Krise werde wohl auch noch bis Weihnachten andauern. Laut SRF-Grossbritannien-Korrespondentin Henriette Engbersen hält man sich momentan noch an das Motto «Keep calm and carry on».
SRF News: Wie wirken sich die leeren Regale oder die Benzinknappheit auf den Alltag der Britinnen und Briten aus?
Henriette Engbersen: Wenn ab und zu ein Produkt fehlt, ist das zwar mühsam, aber nicht weiter schlimm. Das Einschneidendste – vielleicht nicht für alle, aber für sehr viele – ist das Benzinproblem. Letzte Woche waren zeitweise zwei Drittel der Tankstellen ohne Benzin. Und es gibt Hunderttausende, die auf Autos angewiesen sind: Handwerker für Kundenbesuche, Eltern, die die Kinder zur Schule bringen, Pflegedienste, die kranke Menschen zu Hause erreichen müssen, und so weiter.
Herrscht in Grossbritannien schon Krisenstimmung?
Es kommt darauf an, wen Sie fragen. Die Handwerker, die kein Geld verdienen, Menschen, die auf Pflege angewiesen sind, die sagen durchaus: Das ist ein Skandal. Aber Boris Johnsons Wählerschaft sieht das entspannter. Da hört man häufig den Spruch, der auf jeder Teetasse steht: «Keep calm and carry on» (ruhig bleiben, weitermachen). Nicht zu vergessen: Im Vergleich zur Pandemie ist das Benzinproblem harmlos.
Der Parteitag der Tories hat gestern begonnen. Inwiefern überschattet die aktuelle Lage das Treffen?
Sie bestimmt sicher die Schlagzeilen und die Fragen der Journalistinnen und Journalisten. Aber am Parteitag selbst ist die Stimmung gar nicht so schlecht. Denn es ist der erste solche seit Jahren, bei dem es keine parteiinternen Probleme gibt. Das Brexit-Chaos sorgte ja für grosse Grabenkämpfe. Mit Johnson hat nun der rechtspopulistische Flügel übernommen. Und diese neue Einigkeit wird am Parteitag zelebriert, auch wenn draussen quasi ein Sturm tobt.
Könnte sich eine politische Krise für Johnson daraus entwickeln?
Momentan noch nicht. Seine Wählerinnen und Wähler geben ihm mehr Kredit als manch anderem Politiker. Ändern kann sich das dann, wenn die Leute im eigenen Portemonnaie spüren, dass das Leben teurer wird. Und damit ist durchaus zu rechnen. Für das Weihnachtsfest zum Beispiel müssen jetzt 100'000 Truthähne aus der EU importiert werden, weil es hier zu wenig Personal hat, um die eigenen Truthähne zu schlachten.
Die Stimmung könnte kippen und es könnte ein schwieriger Winter werden für Johnson.
Solches lässt natürlich die Lebensmittelpreise steigen. Die Inflation steigt, Gas und Strom werden teurer, aber die Löhne steigen nicht gleichermassen. Wenn die Menschen in einigen Monaten weniger Geld haben und stets von neuen Krisen lesen, könnte die Stimmung kippen und es könnte ein schwieriger Winter werden für Johnson.
Johnson ist bemüht, diese Krise nicht mit dem Brexit in Verbindung zu bringen. Ist es so einfach?
Es ist sicher so, dass die Folgen von Brexit sich nie ganz von den Folgen der Pandemie unterscheiden lassen. Und das ist klar ein Vorteil für Johnson. Er spricht ja ganz clever von einer Anpassungsphase nach der Pandemie, dem Brexit, und das nehmen ihm die Leute derzeit noch ab.
Das Gegenmittel wäre relativ simpel: frühzeitige Planung.
Fakt ist auch: Überall in der EU fehlen Fahrerinnen und Fahrer. Aber in einem grossen Wirtschaftsraum balanciert sich das Problem eher aus. Wer ausserhalb dieses Raumes ist, ist anfälliger für Engpässe. Das Gegenmittel wäre relativ simpel, nämlich frühzeitige Planung. Das hat die Regierung noch nicht adaptiert. Im Moment wird ihr das noch verziehen. Die Frage ist nur: Wie lange noch?
Das Gespräch führte Claudia Weber.