Alla Kotschetkowa kann etwas von sich behaupten, was nur wenige Stadtbewohnerinnen können: «Ich bin die erste Einwohnerin von Dobrograd», sagt sie. «Keiner lebt länger hier.»
Dabei lebt Kotschetkowa erst seit 2017 da. Dobrograd gibt es noch nicht lange. Die «Stadt des Guten», wie der Name lautet, wurde von einem lokalen Unternehmer gegründet. Wladimir Sedow wuchs in dieser Gegend auf, etwa 250 Kilometer östlich von Moskau. Sein Geld machte er mit einer Matratzenfabrik.
Umzäunter Luxus
In Russlands erster privat gebauten Stadt sei alles zu Fuss erreichbar, heisst es im Werbematerial – Einkaufszentren, Schulen, ein Spital. Wälder laden zum Spazieren ein, auf einem künstlichen See kann man wakeboarden und am Waldrand steht ein Freilufttheater, in dem auch mal die Bolschoi-Theatertruppe aus Moskau spielt.
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Bild 1 von 2. Ein künstlicher See für Wasseraktivitäten. Im Winter jedoch ist er nicht mit Wasser befüllt. Bildquelle: SRF / Calum MacKenzie.
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Bild 2 von 2. Hier spielt ab und zu auch die Bolschoi-Theatertruppe aus Moskau. Das Bolschoi-Theater ist das bedeutendste Theater für Oper und Ballett in Russland. Bildquelle: SRF / Calum MacKenzie.
Für Sicherheit sorgen ein Wachdienst und eine Gesichtserkennungssoftware. Das alles steht im Kontrast zu den schiefen Dorfhütten jenseits des Zauns, der alles umringt. Ein Quadratmeter in Dobrograd kostet im Schnitt anderthalbmal so viel wie anderswo in der Region.
Leute ziehen nach Russland, weil ihre Werte nicht zum Herkunftsland passen.
Ausserdem, so heisst es in den Broschüren, teilten die Einwohnerinnen und Einwohner von Dobrograd ein «einheitliches Wertesystem». Was es damit auf sich hat, müsste Alla Kotschetkowa wissen. Sie ist nicht nur die erste Einwohnerin, sondern seit zwei Jahrzehnten die Assistentin des Gründers Wladimir Sedow. Sie wohnt in einem der mit Holz verkleideten Reihenhäuser, die Dobrograd prägen.
«In die Grossstadt zieht man, um zu arbeiten. Hierher, um zu leben», sagt Kotschetkowa. Sie spricht von Gemeinschaftssinn und einem gemächlichen Lebensstil. «Dobrograd ist gut für Familien» – Familien, die sich im Westen angeblich nicht mehr wohlfühlen würden. «Vor allem deswegen kommen Leute aus dem Ausland: Ihre Werte passen nicht zu denen, die das Herkunftsland predigt.»
Die Menschen möchten in einem Land leben, wo die Mama die Mama ist und der Papa der Papa.
Seit Kurzem richtet sich Dobrograd ausdrücklich an Ausländerinnen und Ausländer, die nach Russland ziehen wollen. Angetrieben wird diese neue Kampagne von einem Verein namens «Welcome to Russia», gegründet von der Duma-Abgeordneten Maria Butina.
«Freiheit» in Russland
Butina wurde 2018 bekannt, als sie in den USA als verdeckte Agentin Russlands aufflog. Heute vertritt sie die Putin-Partei «Einiges Russland» und poltert als Moderatorin im Staats-TV gegen westliche Regierungschefs – auch etwa gegen Alt-Bundespräsidentin Viola Amherd, die sie als «schwarze Bankerin» bezeichnete. Am Telefon erklärt Butina, weshalb sich vor allem Leute aus Europa an «Welcome to Russia» wenden.
«Diese Menschen wollen in einem Land leben, wo die Mama die Mama ist und der Papa der Papa», sagt sie. «Wo sich Buben nicht wie Mädchen anziehen müssen, wo es keine LGBT-Propaganda gibt. Wir bieten eine Zuflucht für Christinnen und Christen, die Glaubensfreiheit für ihre Familie wollen. Russland gibt ihnen diese Freiheit.»
«Welcome to Russia» bietet Auswanderinnen und Auswanderern Sprachunterricht und Rechtsberatung. Butina sieht dies als humanitäre Unterstützung für Menschen, die im Westen unterdrückt würden. Und nicht nur sie: Ihr Verein beruft sich auf ein neues Dekret von Wladimir Putin. Menschen aus Ländern mit «destruktiven neoliberalen Haltungen» werden in Russland nun leichter aufgenommen. Dazu gehört laut Dekret auch die Schweiz.
«Während der Pandemie haben wir gemerkt, dass Leute nach Russland kommen wollen», sagt Butina. «Sie entscheiden selbst, hierherzuziehen. Wir locken sie nicht nach Russland und führen keine Kampagne, um Ausländerinnen und Ausländer zum Umzug zu bewegen.»
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Bild 1 von 4. Ein Blick über den zugefrorenen Fluss auf die Wohnhäuser von Dobrograd, etwa 250 Kilometer östlich von Moskau. Bildquelle: SRF / Calum MacKenzie.
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Bild 2 von 4. Noch mehr Reihenhäuser in Dobrograd, der ersten privat gegründeten Stadt Russlands. Bildquelle: SRF / Calum MacKenzie.
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Bild 3 von 4. Dobrograd ist eine moderne, umzäunte Siedlung inmitten russischer Wälder. Die Neubauten wirken wie aus einem westlichen Vorzeigeviertel. Bildquelle: SRF / Calum MacKenzie.
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Bild 4 von 4. Der Spielplatz steht symbolisch für das Versprechen eines idealisierten Lebensumfelds, das Dobrograd seinen Bewohnerinnen und Bewohnern geben will. Bildquelle: SRF / Calum MacKenzie.
Allerdings wirbt eine kleine Armee von Influencerinnen und Influencern für einen Umzug ins «sichere, traditionelle Russland». Diese Tiktokerinnen und Youtuber sind teilweise nachweislich von den russischen Staatsmedien bezahlt und haben oft Verbindungen zu Maria Butina.
Paradies für Unzufriedene
Den Aufrufen sind aber noch nicht viele gefolgt: In Dobrograd leben erst 3000 Menschen, alle stammen aus Russland. Aber es reicht dem russischen Staat, wenn er sich bei unzufriedenen Menschen in Europa als konservatives Ideal darstellen kann.
Trotzdem gibt es Leute, die aus Europa nach Dobrograd gezogen sind. Etwa die Moskauerin Tatjana Abljassowa, die über 20 Jahre lang in Italien gelebt hat.
Sie habe ihre russische Identität immer behalten, sagt Tatjana – Russen wie Italienerinnen seien offen, grosszügig und unkompliziert. In Dobrograd gebe es von beiden Ländern etwas: Die friedvollen russischen Birkenwälder, aber auch den künstlichen See, den sie etwas über-enthusiastisch mit der Amalfiküste vergleicht.
Ich vertraue auf den russischen Mann. In einer Gefahrensituation verteidigt er seine Frau.
Eigentlich hatte Tatjana nie vorgehabt, nach Russland zurückzuziehen. «Aber während der Pandemie habe ich mich mit politischen Themen auseinandergesetzt», sagt sie. In Russland gebe es auch Probleme, räumt sie ein.
«Aber ich vertraue auf den russischen Mann. Der ist vielleicht ungehobelt, aber in einer Gefahrensituation verteidigt er seine Frau.» Der Italiener verstecke sich hinter ihr. So was nenne man dann europäische Toleranz. «Man kann aber nicht tolerant sein, wenn eine Invasion, ein Kulturwandel passiert, mit all diesen sogenannten Flüchtlingen in Europa.»
Flucht vor der russischen Wirklichkeit
Dobrograd gibt sich utopisch. Aber denkt man die Ideologie weg, die der Kreml dem Ort aufdrückt, ist die Realität hier banal: eine Gated Community, wie sie auch im Westen stehen könnte – wo wohlhabende, weisse Menschen hinfliehen, die die veränderliche moderne Gesellschaft nicht aushalten.
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Bild 1 von 2. An der privaten Stadt wird stetig weitergebaut – Dobrograd wächst. Bildquelle: SRF / Calum MacKenzie.
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Bild 2 von 2. Aktuell umfasst Dobrograd 3000 Einwohnerinnen und Einwohner. Bildquelle: SRF / Calum MacKenzie.
Dieses Bild entspricht denn auch eher der anfänglichen Vision des Stadtgründers, Matratzenfürst Wladimir Sedow. «Er wollte in Russland leben, wusste aber nicht, wo», sagt die erste Dobrograderin Alla Kotschetkowa. «Ins Ausland wollte er nicht, obwohl dort der Lebensstandard besser ist. Also baute sich Sedow einen Ort, wo er bequem leben konnte – hier in Russland.»
Das bequeme, eintönige Leben in Dobrograd soll eine Alternative zum dekadenten und verkommenen Westen darstellen. Doch Sedows Projekt bietet in erster Linie das, was er sich ursprünglich davon versprach: eine Flucht vor der russischen Wirklichkeit.