Grosses Rätselraten darüber, wie es in Deutschland nach dem plötzlichen Abgang von SPD-Chefin Andrea Nahles weitergehen soll. Mögliche Antworten darauf hat der Publizist und Politexperte Albrecht von Lucke.
SRF News: Kurzfristig will sich die SPD eine Interimsführung geben. Was ist der mittelfristige Plan?
Albrecht von Lucke: Wenn man das bloss wüsste. Klar ist derzeit einzig, dass an der SPD-Spitze ein ungeheures Führungsvakuum vorliegt. Die SPD präsentiert sich sowohl personell wie inhaltlich völlig entkernt. Es ist niemand da, der sich in Partei- und/oder Fraktionsvorsitz drängt. Denn jeder weiss, dass das ein Schleudersitz ist.
Als starke Figur der SPD bleibt bloss noch Manuela Schwesig aus Mecklenburg-Vorpommern übrig.
Trotzdem: Wer sind die aussichtsreichsten Anwärter für die beiden Posten?
Beim Fraktionsvorsitz ist es völlig offen. Die interessantesten Kandidaten mit dem grössten Potenzial haben sich selber um die Möglichkeit gebracht. Und beim Parteivorsitz sieht es ähnlich aus. Im Grunde bleibt als starke Figur bloss Manuela Schwesig aus Mecklenburg-Vorpommern übrig. Sie ist wohl auch die einzige, die den nötigen Machtwillen hat, um nach dem Parteivorsitz zu greifen. Sie ist jung, hat noch etwas vor und regiert in ihrem Bundesland auf einer einigermassen gesicherten Basis.
Die Partei wird unter vielen möglichen, aber allesamt schwachen Kandidaten auszuwählen haben.
Hat Schwesig auch ein starkes Profil?
Ihr Problem ist, dass sie bislang vor allem als Familien- und Sozialpolitikerin in Erscheinung getreten ist. In Mecklenburg-Vorpommern hat sie sich immerhin auch mit geostrategischen Politik-Zügen in Diskrepanz zur Bundesregierung positioniert, indem sie aus wirtschaftlichen Gründen Tuchfühlung zu Russland aufnahm. Doch sie ist nicht die Generalistin, welche die SPD eigentlich bräuchte – wobei es eine valable Generalisten-Figur in der Partei gar nicht gibt.
Der einzige solche Generalist wäre Finanzminister Olaf Scholz, der für die Parteilinke jedoch nicht wählbar ist. Ein anderer wäre womöglich Juso-Chef Kevin Kühnert, dessen Diskussionsanstoss zu Enteignungen der SPD aber nicht nur nutzen. Die Partei wird unter vielen möglichen, aber allesamt schwachen Kandidaten auszuwählen haben.
Wie lange ist die SPD noch in der grossen Koalition?
Wenn Andrea Nahles bloss das Fraktionspräsidium abgegeben hätte, aber noch Parteivorsitzende geblieben wäre, hätten die Parteilinken nach den Wahlen in den östlichen Bundesländern im Herbst einen völligen Politikwechsel gefordert und die SPD aus der grossen Koalition herausgeholt. Momentan ist die Schockstarre aber so gross, dass die Debatte darüber, ob sich die SPD Neuwahlen überhaupt leisten kann, nach diesen Wahlen nochmals geführt werden wird. Mit der zunehmend desaströsen Lage wird es für die SPD ironischerweise umso schwieriger, die Regierung zu verlassen. Trotzdem dürfte das Mass irgendwann so voll zu sein, dass der Unmut innerhalb der Partei die SPD aus der grossen Koalition rausdrängt.
Es scheint nicht unmöglich, dass die Grünen bei Neuwahlen stärkste Kraft werden – eine völlig absurde Lage.
Derzeit aber sind sowohl SPD wie CDU/CSU personell derart geschwächt, dass sie sich wie Ertrinkende aneinander klammern. Deshalb könnte die grosse Koalition noch länger am Leben erhalten werden. Denn die Union kann derzeit von der Schwäche der SPD nicht profitieren – zu viel Porzellan hat CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer zerschlagen und damit ihre Reputation verspielt. Entsprechend fürchtet auch die Union Neuwahlen. Denn es scheint nicht unmöglich, dass die Grünen bei Neuwahlen stärkste Kraft werden. Eine völlig absurde Lage, von der noch vor wenigen Wochen niemand ausgegangen wäre.
Das Gespräch führte Peter Voegeli.