«Meine Vision für die Zukunft ist, dass wir das Polizeisystem in den USA komplett auflösen», sagt Nikkita Oliver. Sie ist eine der tonangebenden Persönlichkeiten der lokalen Protestbewegung. Auf ihrem T-Shirt prangt gross der Schriftzug, der in US-Städten seit dem Fall Floyd die Runde macht: «Defund the Police».
Auf einen Nenner gebracht, bedeutet «Defund the Police»: Der Polizei sollen bedeutende Teile der Mittel entzogen werden. Ein Teil der Aktivisten fordert gar die völlige Auflösung der Polizei in ihrer heutigen Form. Das Geld müsse stattdessen in ein Gesundheits- und Sicherheitssystem investiert werden, das den Bedürfnissen der Menschen entspreche, sagt Oliver.
Seattle beschliesst Kürzungen
Weil eine Auflösung der Polizei kurzfristig nicht durchsetzbar sei, fordere sie zurzeit lediglich eine Reduktion des Polizeibudgets um 50 Prozent. Stattdessen müsse in Bildung und Armutsbekämpfung oder bezahlbaren Wohnraum investiert werden. Dann könne Kriminalität gar nicht erst entstehen, so ihre Vision.
Unter dem Druck der Strasse beschloss der neunköpfige Stadtrat von Seattle im August eine Reduktion des Polizeibudgets, was zum Abbau von rund 100 Beamtenstellen führt. Für das nächste Jahr sind weitere drastische Kürzungen angedacht. Die Massnahmen finden im demokratisch dominierten Stadtrat eine deutliche Mehrheit.
Die Stadt habe in den letzten Jahren viel unternommen, um die Polizei zu reformieren, sagt Stadträtin Lisa Herbold, Mitglied der Demokraten: «Von dieser Reform bewegen wir uns jetzt weg, hin zu einem völlig neuen Konzept von öffentlicher Sicherheit.» Es würden dadurch Mittel frei, die beispielsweise für Experten im Umgang mit Drogenmissbrauch verwendet werden könnten.
Zündstoff für die Präsidentenwahl
Ähnliche Sparschritte haben in den letzten Wochen auch Städte wie New York oder Minneapolis unternommen. Doch sie bergen politischen Zündstoff. Für die Republikaner liefern sie im aktuellen Wahlkampf eine Steilvorlage, um die Demokraten als Polizeiabschaffer und Gefahr für die öffentliche Sicherheit darzustellen.
Das könnte für die Demokraten zur Gefahr werden. Allerdings sind längst nicht alle in der Partei mit «Defund the Police» einverstanden. Joe Biden distanziert sich von manchen Forderungen der Bewegung. Und das neu verabschiedete Parteiprogramm enthält keine Referenz zu «Defund the Police».
In Seattle führen die Kürzungen zum Eklat. Die Polizeidirektorin der Stadt, die erste dunkelhäutige Frau in dieser Funktion, reicht aus Protest Mitte August ihren Rücktritt ein. Und auch die – ebenfalls demokratische – Stadtpräsidentin ist gegen die Massnahmen und versucht sie mit einem Veto zu bremsen.
Kritik von Anwohnern
Auch manche Bewohner und Kleinunternehmer sind nicht einverstanden. John McDermott, Inhaber einer Autowerkstatt, hält die «Defund»-Forderungen für «verrückt». Seine Werkstatt wurde im Juni von Demonstranten angegriffen. Die Polizei kam nicht, weil sich die Werkstatt nahe einer «autonomen Zone» befand, in welcher die Demonstranten keine Polizei tolerierten.
Es sei zwar möglich, dass «Defund the Police» eine Steilvorlage für die Republikaner sei, gibt Stadträtin Herbold zu. «Doch man kann politischen Wandel nicht mit einem Wahlkampfkalender abstimmen.» Ob geplant oder nicht: Die Bewegung spielt eine wichtige Rolle im Kampf um die Macht in den USA.