Das Büro der Suizid-Präventionsstelle «Embrace» liegt mitten im einst so lebendigen Hamra-Quartier von Beirut. Heute ist das Viertel ein Sinnbild für die Misere Libanons, vor allem nachts: Die Strassen sind dunkel und fast menschenleer, die meisten Cafés geschlossen. Kaum Strom und kein Geld zu haben – in einer Stadt, wo die Zerstörung nach der Explosion vor zwei Jahren noch an jeder Ecke sichtbar ist – setzt den Menschen zu.
An diesem Morgen Ende Juli rufen gleich drei Menschen an, die sich das Leben nehmen wollen. Die jungen Frauen und Männer, welche die Anrufe entgegennehmen, sind gefordert.
25-Jährige beraten am Telefon
120 Freiwillige arbeiten bei der Suizidpräventionsstelle. Durchschnittsalter: 25. Dass so junge Menschen als Beraterinnen und Berater für die Suizidprävention arbeiten, mag erstaunen. Dass es aber überhaupt eine Suizidpräventionsstelle in Libanon gibt, hat das Land jungen Menschen zu verdanken.
Ständig widerstandsfähig sein zu müssen, macht uns müde.
Die Nichtregierungsorganisation «Embrace» wurde von der American University of Beirut (AUB) gegründet, also aus dem Umfeld von Studierenden und jungen Studienabgängern.
Eine der Gründerinnen hatte den Suizid ihres Bruders zu verarbeiten, und die Mitgründerin und heutige Präsidentin der Organisation, die klinische Psychologin Mia Atoui, ist heute eine anerkannte Forscherin für psychische Gesundheit. Bis zur Gründung von «Embrace» 2013 gab es in Libanon kaum eine Anlaufstelle, an die sich Suizidgefährdete oder Betroffene wenden konnten, die jemanden durch Suizid verloren hatten.
Im Nahen Osten ist Suizid einerseits aus religiösen Gründen ein Tabuthema. Andererseits steht der individuelle Mensch in den Stammesgesellschaften dieser Region nicht so im Fokus wie in der westlichen Gesellschaft. Wichtig ist die Gemeinschaft. Man redet nicht über seine eigenen Gefühle, sondern ist in erster Linie besorgt um Familie und Gemeinschaft.
Notrufe nach Explosion verdreifacht
Nach der Explosion im Hafen von Beirut habe sich die Anzahl Anrufe verdreifacht, sagt die klinische Psychologin Rêve Romanos, welche das Beratungsteam leitet. «Vor der Explosion war unsere Hotline nur wenige Stunden am Tag besetzt. Nach der Explosion bauten wir unsere Präsenzzeiten ständig aus: Zunächst auf 21 Stunden pro Tag, jetzt sind wir rund um die Uhr da.»
Die Organisation ging auch Monate nach der Explosion aktiv auf die Bevölkerung zu, um ihr Nottelefon bekannt zu machen. In einer Serie von Videos in den sozialen Medien forderte die Beratungsstelle im Mai 2021 die Menschen auf, über ihre Wut, Trauer und Verzweiflung nach der Explosion zu reden. Und nicht krampfhaft zu versuchen, dem Klischee gerecht zu werden, die Libanesinnen und Libanesen seien nach all den Kriegen und Krisen besonders widerstandsfähig.
«Ständig widerstandsfähig sein zu müssen, macht uns müde», sagt Rêve Romanos. Für Beirut war die Explosion eine Katastrophe zu viel – die Wirtschaftskrise, die darauf folgte, gab dem ganzen Land den Rest. Der Alltag ist für fast die gesamte Bevölkerung zum Überlebenskampf geworden. Die Banken haben Geldbezüge auf ein Minimum reduziert, selbst reichere Libanesinnen und Libanesen haben ihre Lebensersparnisse verloren. Nur schon für Brot müssen sie manchmal stundenlang anstehen.
Die Entwertung der Landeswährung hat zur Inflation und zur kompletten Entwertung der Löhne und zur Verarmung von über achtzig Prozent der Bevölkerung geführt. Und das in einer Gesellschaft, die von einem 15-jährigen Bürgerkrieg (1975-1990) traumatisiert ist, ebenso von weiteren Kriegen, wie zuletzt dem Krieg zwischen Israel und der militanten schiitischen Hisbollah Miliz 2006. Bombardiert wurden damals erneut Teile Beiruts. Die Explosion am 4. August 2020 (siehe Box oben) war für Beirut eine Katastrophe zu viel.
«Wir retten jeden Tag Leben»
Alle zwei Tage nimmt sich in Libanon ein Mensch das Leben, alle sechs Stunden versucht jemand, sein Leben zu beenden. Die Suizidrate ist, gemessen an der Bevölkerung, um einiges höher als in der Schweiz. Und trotzdem gebe es Hoffnung, sagt Rêve Romanos. Die enorm gestiegene Anzahl von Anrufen aufs Nottelefon seit der Explosion von Beirut wertet sie als positives Zeichen, weil die Menschen Hilfe suchten.
Während sich bei der Bürgerkriegsgeneration das Trauma wiederhole, alles zu verlieren, schon wieder von vorne anfangen zu müssen, habe die Jugend das Gefühl, gar keine Zukunft zu haben. Ihre Eltern haben kein Geld, keine Arbeit, ihr Freundeskreis schwindet, weil so viele das Land verlassen.
«Die meisten Anrufe kommen von Jungen, zwischen 12 und 34 Jahre alt – manchmal auch von Zehnjährigen. Sie sehen keinen Sinn in ihrem Leben,» sagt Romanos.
Diese jungen Menschen finden bei der Beratungsstelle auch eine Gemeinschaft, die ihnen Halt gibt.
«Es ist hart für uns alle», beginnt ein anderes Video der Beratungsstelle. Gerade weil alle leiden, getrauten sich viele nicht, ihr Umfeld zusätzlich mit den eigenen Problemen zu belasten. Die Botschaft des Nottelefons ist: «Hier findest du ein offenes Ohr.» Die 120 jungen Freiwilligen, die den verzweifelten Anrufern und Anruferinnen zuhören, machen selbst dasselbe durch wie alle in Libanon. Das sei enorm belastend für sie, und trotzdem gebe es Hoffnung, wenn sie anderen helfen könnten, sagt Romanos.
«Diese jungen Menschen finden bei der Beratungsstelle auch eine Gemeinschaft, die ihnen Halt gibt», sagt sie. «Wir retten jeden Tag Leben.»
Das bestätigen auch die Zahlen. Trotz der Krise, in welcher der Mangel an Therapeuten und Psychologinnen gross ist und es kaum Medikamente gibt, um zum Beispiel Depressionen zu behandeln, ist die Suizidrate in Libanon im Vergleich zu den Vorjahren leicht gesunken. In einem Land, in dem es fast nur noch schlechte Nachrichten gibt und fast gar nichts mehr funktioniert, ist das ein kleiner, willkommener Lichtblick. Dem jungen Team der Suizidpräventionsstelle gibt er Hoffnung.