Frankreichs Gewerkschaften gewinnen ihre Stärke nicht aus dem Organisationsgrad. Im Gegenteil: Nur rund 10 Prozent der Französinnen und Franzosen sind Mitglied einer Gewerkschaftsorganisation. In Nachbarländern sind es deutlich mehr: in Belgien zum Beispiel 50 Prozent, in Italien 33 Prozent. Und auch die Schweizerinnen und Schweizer sind mit rund 17 Prozent deutlich häufiger Mitglieder von Gewerkschaften als ihre Nachbarn in Frankreich.
Doch der Organisationsgrad in Frankreich unterscheidet sich sehr stark nach Branche: Ihre Hochburgen befinden sich vor allem im öffentlichen Sektor: bei der Eisenbahn etwa, beim Stromproduzenten EDF, in den Schulen oder im Gesundheitswesen.
Streik ist nicht das letzte Mittel
Und dort, wo der Organisationsgrad hoch ist, geben sich die Gewerkschaften sehr schnell kampfbereit. Streiks sind nicht das letzte Mittel, wenn zum Beispiel Verhandlungen mit den Unternehmen gescheitert sind – wie etwa in der Schweiz. Streiks beginnen oft präventiv während Verhandlungen, um Forderungen mehr Nachdruck zu verleihen.
Was den Gewerkschaften dabei entgegenkommt, ist das politische System Frankreichs, das ausgeprägt von oben nach unten funktioniert. Im Parlament dominiert in der Regel eine starke Regierungsmehrheit über eine Opposition, die wenig zu melden hat. Da ist eine politische Korrektur praktisch nur durch den Protest auf der Strasse möglich. Dies war beim letzten Versuch der Regierung Macron zu einer Rentenreform vor drei Jahren so. Es waren die Gewerkschaften, die Ende 2019, Anfang 2020 während Monaten Widerstand auf der Strasse mobilisierten. Im Parlament konnte die Opposition nur wenig erreichen. Es war die Pandemie, die den Reformversuch schliesslich erstickte.
Inzwischen hat die Regierung im Parlament zwar keine eigene Mehrheit mehr. Aber sie kann hoffen, dass sie bei der republikanischen Rechten die notwendige Unterstützung findet und die Vorlage durchs Parlament bringt.
So einig wie schon lange nicht mehr
Während Monaten hatte die Regierung auch Gespräche mit den Sozialpartnerinnen geführt. Sie sprach von Verhandlungen – die Gewerkschaften von Anhörungen. Und diese fühlen sich ignoriert, weil die Regierung auf dem höheren Rentenalter 64 besteht, trotz aller grundsätzlichen Einwände der Gewerkschaften. Dies hat dazu geführt, dass Frankreichs Gewerkschaften heute so einig sind wie schon lange nicht mehr: Das Rentenalter dürfe nicht über 62 steigen, so ihre Forderung.
Für diesen Kampf haben die vereinigten Gewerkschaften am zweiten nationalen Mobilisierungstag noch mehr Leute auf die Strasse gebracht als im ersten Anlauf vor zwei Wochen. Der Druck von der Strasse soll auch die parlamentarische Debatte begleiten, die bis in den März dauern dürfte.
Es gibt zumindest bis jetzt keine Anzeichen dafür, dass den Gewerkschaften so schnell der Schnauf ausgeht.