Auf den Strassen Belgrads hat sich heute das ganze Land versammelt: Bauern, Rentnerinnen und Veteranen. Jung und Alt, Stadtmenschen und solche, die auf dem Land wohnen. Es ist der bislang grösste Protest der Studentenbewegung, die in Serbien seit Monaten andauert und mittlerweile zu einem Volksaufstand geworden ist.
Der Protest heute ist bunt und kreativ. Es wird getanzt und getrommelt. Die Freude ist den Menschen auf der Strasse anzusehen.
Das alles passt so gar nicht zu dem Bild, das Präsident Aleksandar Vučić von den Protesten malt. Er bezeichnet sie als vom Ausland gesteuert. Die Opposition, so Vučić, wolle nur Chaos stiften. Im Vorfeld warnte er, heute werde es in Belgrad zu Gewalt kommen.
Die Menschen haben die Angst verloren
Als dann vor ein paar Tagen aus dem Nichts ein Camp auftauchte, mit Anhängerinnen und Anhängern des Regimes, befürchteten viele, die Regierung werde gezielt versuchen, am Protesttag Gewalt zu provozieren. Es wäre nicht das erste Mal, dass vermummte Schläger im Auftrag der Regierung Protestierende angreifen.
Doch schnell war klar: In diesem Camp sind nicht wie vorgegeben Studentinnen und Studenten, die genug haben vom Protest, sondern vielmehr die in Serbien spöttisch genannten «Sendvičari». Damit werden Menschen bezeichnet, die vom Regime bezahlt werden, um für die Regierung zu protestieren. Dies sind oft Staatsangestellte, die um ihre Anstellung fürchten. Weil sie dafür manchmal nur ein Sandwich erhielten, entstand der Name.
Die Menschen lassen sich von der Drohkulisse nicht verunsichern. Im Gegenteil: Hunderttausende haben sich auf der Strasse versammelt und fordern lautstark ein Ende dieser Machenschaften.
Forderungen stellen die Systemfrage
Dabei scheinen die Forderungen der Menschen auf den ersten Blick harmlos. Sie wollen, dass die Institutionen im Land unabhängig arbeiten. Sie verlangen, dass das Gesetz für alle gilt, und dass man keine Kontakte zur herrschenden Elite braucht, um einen Job zu erhalten. Vor allem aber wollen sie ein Ende der Korruption.
Seit Beginn der Proteste steht diese Forderung im Zentrum. Denn die Menschen machen diese für das Unglück von Novi Sad verantwortlich, bei dem Anfang November 15 Menschen starben.
All diese Forderungen zielen auf das Herz des Regierungssystems von Aleksandar Vučić, dass er sich in den letzten zwölf Jahren an der Macht aufgebaut hat. Selbst wenn er wollte, kann er nicht auf die Forderungen eingehen. Denn damit würde er die Macht verlieren. Er weiss das, und auch die Menschen auf den Strassen.
Vučić scheint derzeit die Proteste aussitzen zu wollen, so wie er es schon früher mehrmals getan hat. Angesichts der Dynamik der Proteste scheint es aber fraglich, ob dies erneut gelingt. Denn mit so einer breiten Ablehnung aus allen Schichten des Landes sah er sich noch nie konfrontiert.