Die Regierungspartei «Georgischer Traum» schien lange unantastbar. Die Massenproteste gegen die Einführung eines repressiven Gesetzes überdauerte sie. Als sie Verschwörungstheorien verbreitete und versprach, die gesamte Opposition zu verbieten, hoffte diese weiterhin auf faire Wahlen.
Als der «Traum» die Wahlen unter Anzeichen massiver Manipulation gewann, zeigten sich seine Kritiker fassungslos und gelähmt. Trotz der Tatsache, dass selbst in den Hochburgen der Regierungspartei Müdigkeit zu spüren ist: Alles lief auf weitere vier Jahre unangefochtener Macht hinaus, in welchen sie an der Demokratie im Land weitersägen und ihre Herrschaft absichern konnte.
Doch dann machte sie einen Fehler. Schon lange liebäugelt der «Traum» mit der offiziellen Abkehr von der EU, die ihm bei seinem autokratischen Projekt ein Dorn im Auge ist. Aus einer Position der scheinbaren Allmacht wagte die Partei den Schritt über die rote Linie. Als Antwort auf Kritik aus Brüssel kündigte Premier Irakli Kobachidse an, die Beitrittsgespräche für Jahre einzufrieren.
EU als Teil der Identität
Der Weg in die EU ist für viele Georgierinnen und Georgier nahezu Teil der Identität geworden. Einige sehen ihr Land als entlegenen Aussenposten «europäischer» Werte wie Demokratie und Rechtstaatlichkeit. Andere versprechen sich von Brüssel vor allem Wohlstand. Und die allermeisten betrachten die Annäherung an den Westen als unabdingbar, um nicht wieder unter die Kontrolle des verhassten Kremls zu fallen.
Von der Schwarzmeerküste über die weltoffene Hauptstadt bis zum konservativen, ländlichen Osten des Landes: Der Traum von der EU ist unbestritten. Die spontanen Proteste, die seit Freitag das ganze Land erschüttern, strafen den «Georgischen Traum» Lügen: Seit Monaten verteufelt er seine Gegnerinnen und Gegner als Marionetten der Opposition, die wiederum selber die Marionette zwielichtiger Kräfte im Westen sei.
Doch die Opposition gilt selbst bei ihren Wählern als planlos; ihre Protestaufrufe der letzten Wochen blieben mehrheitlich unbeantwortet. Auf die Strassen Georgiens entladen sich jetzt echte Wut und die verzweifelte Angst der Menschen, ihre Zukunftshoffnungen zu verlieren.
Georgien ist nicht Belarus
Übers Wochenende reagierten die Sicherheitskräfte darauf mit brachialer Gewalt, in der Nacht auf Sonntag nahm auch die Gewaltbereitschaft der Protestler zu. Einige warnen nun vor einem «Belarus-Szenario»: Den Massenaufstand von 2020 bekam das Lukaschenko-Regime mit beispielloser Repression und Hilfe aus Russland in den Griff.
Georgien aber ist ein anderes Land: Die Loyalität der Polizisten gegenüber der regierenden Clique hält sich in Grenzen; massive Gewalt gegen die eigenen Landsleute ist für wenige von ihnen selbstverständlich, geschweige denn für die breite Bevölkerung. Und Russland ist zu sehr darauf fixiert, Donald Trump den bestmöglichen Deal in der Ukraine abzuringen, als dass es jetzt den Einmarsch in einen weiteren Verbündeten des Westens riskieren würde.
All das weiss der «Georgische Traum». Von ausufernder Gewalt hat er bei bisherigen Protesten deswegen meist abgesehen. Seine Strategie war es immer, auszuharren, bis den Demonstrationen die Puste ausgeht. Doch aktuell eskalieren diese nur. Währenddessen bröckelt die Kontrolle der Partei über die staatlichen Institutionen, die sie seit Jahren unterwandert: Topdiplomaten treten zurück; zahlreiche Beamtinnen unterschreiben Protestbriefe. Nach dem Hochmut könnte diesmal tatsächlich der Fall drohen.