Georgien setzt die Beitrittsgespräche mit der EU bis 2028 aus. Die Absage der Regierung der nationalkonservativen Partei «Georgischer Traum» hat tausende Menschen auf die Strassen getrieben. In der Hauptstadt Tiflis kam es zu Ausschreitungen: Die Polizei hat Wasserwerfer und Pfefferspray gegen Demonstrierende eingesetzt. Medien berichten von mehreren Verletzten und Festnahmen. SRF-Korrespondent Calum MacKenzie ist in Tiflis und schätzt die Situation ein.
Was hat die heftigen Proteste ausgelöst?
Die Proteste wurden durch die Ankündigung der Regierung ausgelöst, die Gespräche über den EU-Beitritt Georgiens bis 2028 zu suspendieren. Diese Entscheidung war eine Reaktion auf eine Resolution des EU-Parlaments. Dieses bezeichnete die georgischen Wahlen als manipuliert, wollte den Wahlsieg der Regierungspartei «Georgischer Traum» nicht anerkennen und forderte Sanktionen gegen führende Parteimitglieder. Die Regierung wies diese Vorwürfe zurück. Laut Umfragen unterstützen rund 80 Prozent der Bevölkerung den EU-Beitritt. Mit der Ankündigung hat die Regierung offenbar den Volkszorn entfacht.
Wie ist die Situation in Tiflis?
Aktuell ist es wieder ruhig. Die Bereitschaftspolizei hat die Proteste am frühen Morgen mit dem Einsatz von Tränengas, Wasserwerfer und offenbar auch Gewalt aufgelöst. Es war der heftigste Polizeieinsatz seit langem in Georgien und es waren auch die heftigsten Proteste. Die Demonstrierenden haben sich am Donnerstagabend spontan vor dem Parlament in Tiflis, vor dem Hauptquartier der Regierungspartei und in anderen Städten des Landes versammelt. In Tiflis haben sie versucht, ins Parlamentsgebäude einzubrechen. Aufgrund der Tatsache, dass die Menschen so spontan auf die Strasse gegangen sind, erwarte ich weitere Proteste heute Abend.
Warum ist es nach den umstrittenen Wahlen so lange ruhig geblieben in Georgien?
Nach den umstrittenen Wahlen blieb es lange ruhig, obwohl sich Hinweise auf Manipulation schon sehr früh zeigten. Viele regierungskritische Menschen waren jedoch enttäuscht und desillusioniert – vom Wahlsieg des «Georgischen Traums», weil sie geglaubt haben, die Opposition werde gewinnen. Die Opposition hatte keine Strategie für den Umgang mit Manipulationsvorwürfen, obwohl diese zu erwarten waren. Denn der «Georgische Traum» hat in seinen Jahren an der Macht fortlaufend die Demokratie untergraben. Die Frustration über den Sieg und die inkompetente Opposition lähmte den Widerstand.
Warum distanziert sich die Regierung vom angestrebten EU-Beitritt?
Die Regierung des «Georgischen Traums» beteuert offiziell weiterhin, sie wolle den EU-Beitritt. Aber tatsächlich passen die demokratischen und rechtsstaatlichen Normen der EU nicht in ihr Konzept. Jetzt gibt sie erstmals offen zu, dass sie den EU-Beitritt nicht mehr priorisiert. Die Regierung wagte das wohl, weil die Proteste nach den Wahlen so klein blieben. Aber sie hat sich verschätzt. Es ist ironisch – die Regierungspartei stellt die Opposition und Regierungskritikerinnen stets als bezahlte Marionetten dar, die von aussen kontrolliert würden. Die absolut spontanen Proteste von letzter Nacht zeigen, wie falsch das ist.