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Umstrittene Wahlen Die Angst vor Russland hat in Georgien gesiegt

Gespenstisch still war es in Tiflis, nachdem die Regierungspartei «Georgischer Traum» ihren Wahlsieg verkündet hatte. Die Autokorsos aufgebotener Parteianhänger waren schnell wieder abgedüst. Spontan wollte niemand den Ausgang eines Urnengangs feiern, den beide Seiten als Schicksalswahl bezeichnet hatten.

Die georgische Bevölkerung ist müde nach zwölf Jahren unter der Regierung des «Traums», in denen sich wenig verbessert hat. Trotzdem hat sie diesen deutlich wiedergewählt – mit 54 Prozent, wenn den Zahlen der Wahlkommission zu glauben ist. Es ist das beste Resultat in der Parteigeschichte.

Opposition am Boden

Die Opposition zweifelt das Ergebnis nicht zu Unrecht an: Am Samstag gab es zahlreiche Meldungen von Unregelmässigkeiten, Druckversuchen und Handgemengen bei Wahllokalen. In ländlichen Regionen, die von ethnischen Minderheiten bewohnt und von der georgischen Politik weitgehend entfremdet sind, wurden abenteuerliche Resultate vermeldet: Erdrutschsiege für die Regierung an Orten, in denen die Opposition vor vier Jahren fast gleichauf war. Unabhängige Beobachterinnen und Beobachter werden am Sonntag erklären, ob die Wahl frei oder fair war.

Komplett fingiert dürften die offiziellen Resultate aber nicht sein. Der «Georgische Traum» war auf dem Land schon immer stark. Die Kampagne der Opposition hat es vernachlässigt, die Leute in verarmten Regionen auf ihre Alltagsprobleme anzusprechen. Das Argument der Regierung, die Opposition wolle einen Krieg mit Russland beginnen, wird bei vielen Menschen verfangen haben – egal, wie realitätsfern diese Behauptung ist.

Ukraine-Krieg beeinflusst Georgien

Die überwiegende Mehrheit der Georgierinnen und Georgier ist nicht pro-russisch. Sie leben aber in Angst vor Russland. Der grosse Nachbar beteiligte sich seit der Unabhängigkeit Georgiens an Konflikten und Kriegen gegen das Land, an ethnischen Säuberungen, an der völkerrechtswidrigen Abspaltung von Regionen.

Viele Menschen blicken mit Entsetzen in die Ukraine, die heute von russischen Bomben zerstört wird. Da der «Georgische Traum» nach zwölf Jahren an der Macht keine Argumente mehr hat, hat er zu kruder Angstmacherei gegriffen. Im Schatten des Ukraine-Kriegs ist diese Strategie aufgegangen.

Der Krieg beeinflusst nicht nur die einfachen Menschen. Erst mit der russischen Grossinvasion der Ukraine hat sich der «Georgische Traum» endgültig der Autokratie zugewandt. Seine Anführer rechneten von Beginn an mit einem Kollaps der Ukraine und einer neuen russischen Dominanz in der Region.

EU-Beitritt als leeres Versprechen

Auch der «Georgische Traum» ist nicht pro-russisch. Er ist «pro Machterhalt». Die Parteiführung hat gepokert und im Krieg auf Russland gesetzt. Die Annäherung an Russland bedeutet aber die Abkehr vom Weg in die EU, den so viele Georgierinnen und Georgier unterstützen. Weil ihr Kurs eigentlich unbeliebt ist, verteufelt die Regierung nun die Zivilgesellschaft und kündigt an, die Opposition zu verbieten. Den EU-Beitritt verspricht sie weiterhin, aber das ist bestenfalls Wunschdenken, schlimmstenfalls eine Lüge.

Georgien war einst die Erfolgsgeschichte im Kaukasus, die kleine Demokratie mit dem starken Willen, zu Europa zu gehören. Der Ukraine-Krieg hat alles verändert. Wladimir Putins Befehl zum Angriff hat zum Leid von tausenden Ukrainerinnen und Ukrainern geführt. Doch er wird auch dafür in die Geschichte eingehen, dass er die Hoffnungen tausender Georgierinnen und Georgier auf eine demokratische Zukunft zerschmettert hat.

Calum MacKenzie

Russland-Korrespondent

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Calum MacKenzie ist Russland-Korrespondent von Radio SRF. Er hat in Bern, Zürich und Moskau Osteuropa-Studien studiert.

SRF 4 News, 27.10.2024, 9 Uhr

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