Seit Wochen halten die Proteste in Hongkong gegen den immer stärkeren chinesischen Einfluss an. Trotz der zunehmenden Gewalttätigkeit stellt der in Hongkong lebende Schweizer Theologieprofessor Tobias Brandner eine breite Unterstützung für die Anliegen der Demonstrierenden fest.
SRF News: Herr Brandner, Sie sind zu Beginn der Proteste ebenfalls auf die Strasse gegangen. Wieso?
Tobias Brandner: Damals richteten sich die Proteste gegen das für Hongkong schädliche Auslieferungsgesetz. Ich schloss mich den Demonstrationen an, weil das Gesetz die Unabhängigkeit Hongkongs unterminiert.
Die Proteste dauern nun schon seit zwei Monaten an. Wie haben sie sich gewandelt?
Im Juni waren es Massenproteste mit einer oder zwei Millionen Teilnehmenden – quasi jeder vierte Hongkonger ging damals auf die Strasse. In den letzten Wochen sind die Proteste aber gewalttätiger geworden.
Die stärker werdende Gewalt macht vielen Angst.
Sie haben als Gefängnisseelsorger mit inhaftierten Aktivisten der Regenschirm-Bewegung zu tun, als Theologieprofessor aber auch mit ehemaligen hohen Hongkonger Beamten und Professorenkollegen. Was sagen diese Leute zu den aktuellen Protesten?
Ich nehme eine grossmehrheitliche Unterstützung der Protestierenden wahr. Zwar sehen die wenigsten die zunehmende Gewalt gerne – auch unter den «Occupy Central»-Aktivisten von vor fünf Jahren herrscht eine gewisse Angst vor der stärker werdenden Gewalt. Doch in der Sache werden die Demonstrierenden weitgehend unterstützt.
Viele junge Leute sehen keine wirtschaftliche Perspektive.
Als Professor kennen Sie die jungen Leute, die jetzt noch demonstrieren. Was sind ihre Anliegen?
Sie sind zunehmend frustriert, dass es in Hongkong keinerlei demokratischen Fortschritt gibt. Zudem sehen sie persönlich keine wirtschaftliche Perspektive. Die Liegenschaftspreise in Hongkong sind seit der Jahrtausendwende sehr viel stärker gestiegen als die Löhne. So ist es jungen Menschen kaum mehr möglich, Wohnraum zu erstehen und mit Aussicht auf ein gutes Leben eine Familie zu gründen.
China verstärkt seine Drohkulisse gegenüber den Demonstranten. Werden die Proteste dadurch zusätzlich befeuert?
Kaum jemand glaubt daran, dass China einschreiten wird – auch ich befürchte nicht, dass Peking polizeilich oder militärisch eingreifen wird. Denn das wäre ein riesiger Gesichtsverlust für China und damit ein grosses Fiasko.
Viele der jungen Demonstranten nehmen sogar den Tod in Kauf.
Zudem muss man sich bewusst sein, dass die jungen Demonstranten eine fast apokalyptische und radikale Haltung haben. In ihren Augen haben sie nichts zu verlieren, sogar den Tod nehmen viele von ihnen in Kauf. Verstärkt wird das durch die in Honkgong herrschende Massenpsychologie. Für die Jugendlichen ist es eine enorm starke Erfahrung, Teil der geeinten Masse zu sein, die für eine gute Sache kämpft. Das nimmt ihnen auch die Angst vor stärkerer Repression durch China.
Bedeutet die radikale Haltung der Demonstranten, dass die Proteste noch lange weitergehen werden?
Einerseits ja, aber andererseits findet auch eine Ermüdung statt. Sie dürfte durch den Schul- und Universitätsbeginn Anfang September verstärkt werden. Einige der jugendlichen Demonstranten werden dann sicher wieder in den Alltag zurückfinden. Derzeit haben viele von ihnen schlicht keinen Grund, untätig zuhause zu sitzen. Die Proteste sind eine Gelegenheit, mit Freunden an einer sinnvollen Sache teilzunehmen. Dabei ist natürlich nicht die Gewalt sinnvoll, sondern der Kampf gegen das Auslieferungsgesetz.
Das Gespräch führte Romana Costa.