«I can't breathe» – ich kann nicht atmen. Diese drei Worte, gestammelt von George Floyd, haben im vergangenen Jahr weltweit für Entsetzen gesorgt. Floyd starb bei einem Polizeieinsatz, weil der Polizist Derek Chauvin minutenlang auf dem Nacken von Floyd kniete.
Der Prozess gegen den Polizisten, der seit zwei Wochen läuft, wühlt die Öffentlichkeit in den USA auf. Diese Woche haben Dienstkolleginnen und -kollegen sowie Vorgesetzte des Angeklagten vor Gericht ausgesagt.
Vorgehen «nicht nachvollziehbar»
«Wie beurteilen Sie die Art, wie Officer Chauvin Gewalt angewandt hat?», fragt der Staatsanwalt Chauvins direkten Vorgesetzten. «Völlig unnötig», sagt Polizeileutnant Richard Zimmerman im Zeugenstand.
Und auch Inspektor Katie Blackwell, die damalige Leiterin des Polizei-Weiterbildungszentrums von Minneapolis, macht klar: Das Vorgehen Chauvins sei nicht nachvollziehbar.
Die Bedeutung dieser Aussagen sei enorm, sagt Mary Moriarty, bis vor kurzem die oberste Pflichtverteidigerin im Bundesstaates Minnesota. Der Verteidiger des Angeklagten sei durch diese Aussagen in eine schwierige Lage geraten. Die Verteidigung könne nun nicht mehr behaupten, Chauvin habe bloss eine übliche Praktik angewandt, als er auf Floyds Hals kniete.
Aussagen gegen Kollegen sind selten
Chauvin habe gegen interne Regeln und gegen das Gebot der Hilfeleistung verstossen, sagt Juristin Moriarty. Sehr wichtig seien aber auch die unmissverständlichen Aussagen von Medaria Arradondo gewesen, dem Polizeichef von Minneapolis. Das Vorgehen Chauvins verstosse gegen interne Regeln und sei zu verurteilen, sagte Arradondo. Dass ein Polizeichef öffentlich gegen einen der Mitarbeiter aussage, sei ein fast einmaliger Vorgang in den USA.
Stehen Polizisten vor Gericht, stossen Staatsanwälte und Richterinnen sonst immer auf eine Mauer des Schweigens bei den Dienstkollegen von angeklagten Polizisten.
Dass Polizeichef Medaria Arradondo das Verhalten Chauvins nun derart klar verurteile, enthalte aber auch eine wichtige Botschaft an sämtliche Polizisten und Polizistinnen von Minneapolis, sagt Juristin Moriarty: «Ihr erhaltet von mir keine Rückdeckung, wenn ihr gegen interne Regeln und Werthaltungen verstösst.» Damit habe Arradondo sein Korps gewarnt.
Angeklagter hatte keine Todesangst
Häufig würden Polizisten vor Gericht freigesprochen, wenn sie im Dienst einen Menschen töteten, sagt die langjährige Pflichtverteidigerin Moriarty. Doch der Fall Chauvin sei in vieler Hinsicht aussergewöhnlich: Denn meistens töteten Polizisten mit ihren Schusswaffen und könnten geltend machen, sie hätten aus Furcht um das eigene Leben abgedrückt.
Chauvin hingegen sei nicht in Gefahr gewesen und habe nicht in Sekundenbruchteilen eine Entscheidung fällen müssen: Minutenlang habe Chauvin die Möglichkeit gehabt, Floyds Leben zu retten. Deshalb sei eine Verurteilung wegen Mord dritten Grades durchaus möglich, glaubt Moriarty.
Die Geschworenen fällen ihr Urteil Ende Monat.