Innerhalb weniger Wochen ist Gisèle Pelicot in Frankreich zu einer neuen feministischen Ikone geworden: Pelicots Gesicht taucht inzwischen als Graffiti in den Strassen Frankreichs auf.
Mehrmals haben in verschiedenen französischen Städten Tausende Menschen demonstriert, um ihre Solidarität für Pelicot und andere Opfer sexualisierter Gewalt auszudrücken. «Wir sind alle Gisèle!» Dies wird an solchen Kundgebungen dann unter anderem skandiert.
Gewalt ist nichts Aussergewöhnliches, nichts Marginales, nichts Exzentrisches oder Exotisches. Gewalt kann in unserem gewöhnlichen, banalen Leben existieren.
Und wenn Gisèle Pelicot morgens zum Verhandlungssaal in Avignon geht, wird sie von Dutzenden Menschen mit Applaus erwartet – sie singen zu ihrer Unterstützung feministische Lieder.
Die Vergewaltiger sind ganz gewöhnliche Männer
Neben dem grossen Mut von Gisèle Pelicot gibt es für Soziologieprofessor Eric Fassin von der Universität Paris8 einen weiteren Grund, warum der Prozess Frankreich derart erschüttert: «Wir verstehen nun, dass Gewalt nichts Aussergewöhnliches, nichts Marginales, nichts Exzentrisches oder Exotisches ist. Gewalt kann in unserem gewöhnlichen, banalen Leben existieren.»
Auf der Anklagebank in Avignon sitzt einerseits der Ex-Ehemann des Opfers, der Haupttäter. Ihn hatte Gisèle Pelicot bei ihrer ersten Aussage bei der Polizei als «Super Mec» bezeichnet.
Zum anderen sitzen dort 50 weitere Angeklagte, die einen Querschnitt durch die Gesellschaft bilden. Vom Schreiner bis zum Journalisten, von jung bis alt, von gebildet bis ungebildet.
«Es sind ganz gewöhnliche Männer, die ganz gewöhnliche Frauen vergewaltigen», sagt Soziologe Fassin. Genau das prangere der Feminismus seit langem an. Und Experten hätten schon immer gewusst, dass die meisten Frauen ihren Vergewaltiger kennen.
Jeder Mann ein potenzieller Sexualtäter?
Französische Feministinnen stellen seit Jahren die vorherrschenden Stereotypen über Täter sexueller Gewalt infrage. Sie betonen, dass es eben gerade kein spezielles Profil des Vergewaltigers gebe.
Zu ihnen gehört die Feministin und Autorin Rose Lamy. Gegenüber Radio France erklärte sie, der Prozess könnte in dieser Hinsicht ein Wendepunkt in Frankreich darstellen. Sie hoffe, dass die Botschaft der Feministen, dass der gewalttätige Mann auch Herr Otto Normalbürger sein kann, sich durchsetze.
Der Prozess in Avignon könnte deshalb der französische Me-too-Prozess werden. Denn obwohl Frankreich bereits Me-too-Fälle kenne, handelte es sich dabei um berühmte Personen in der Filmbranche oder in der Politik. Mit diesem Prozess jetzt weite sich das Thema auf alle Männer aus, so Lamy.
Es ist etwas in Bewegung geraten
In Frankreich scheint tatsächlich etwas ins Rollen gekommen zu sein. Laut der aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts IFOP glauben zwei Drittel der Franzosen, dass der Prozess deutlich gemacht habe, dass alle Männer eine gewisse Verantwortung tragen, wenn es um sexuelle Gewalt geht.
Und für fast 90 Prozent der Befragten aus allen politischen Lagern ist nun der Zeitpunkt gekommen, sich im Kampf gegen sexuelle Gewalt zu engagieren.