Der neue syrische Machthaber, Ahmed al-Scharaa, weiss, wie gross das Bedürfnis der Bevölkerung nach Gerechtigkeit ist. Er verspricht daher rasch ein Übergangsjustizsystem, um die aufgebrachten Gemüter zu beruhigen.
Es muss unbedingt vermieden werden, dass immer mehr Opfer der Assad-Diktatur zur Selbstjustiz greifen.
«Letztlich geht es darum, für Gerechtigkeit zu sorgen, um Racheakte zu verhindern», sagt Alain Werner, Chef der Genfer Nichtregierungsorganisation Civitas Maxima, die sich weltweit für Opfer einsetzt: «Es muss unbedingt vermieden werden, dass immer mehr Opfer der Assad-Diktatur zur Selbstjustiz greifen.»
Solche Fälle häufen sich bereits, wie die «New York Times» dieser Tage schilderte. Es trifft dann selten die Mächtigen, vielmehr die Handlanger des Regimes – mitunter auch bloss vermeintliche.
Prozesse in Syrien?
Alain Werner war beteiligt an der juristischen Aufarbeitung blutiger Bürgerkriege, von Kambodscha bis Sierra Leone. Er schliesst nicht aus, dass die Gerichtsverfahren gegen Assads Komplizen in Syrien selber stattfinden.
«Es gibt in Syrien mutige, kompetente Anwälte und Richter, die für die Freiheit und für die Opfer eintreten. Aus diesen Kreisen gab es schon in den 1970er- und 1980er-Jahren Proteste, die aber noch unter Vater Hafis al-Assad grausam niedergeschlagen wurden», so Werner Nun konnten sich, von den neuen Machthabern geduldet, syrische Juristen nach Jahrzehnten erstmals wieder versammeln. Klar ist allen, dass das noch von Assads Hofschranzen durchsetzte Justizsystem von Grund auf reformiert werden muss.
Ein internationales Gericht?
Gelingt das nicht, wäre eine juristische Aufarbeitung an einem internationalen Gericht denkbar. In Kambodscha und Sierra Leone wandten sich sogar die Regierungen an die UNO, um diesen Weg zu gehen. In Ruanda wurden niedrige Chargen im Land selber verhandelt, die Hauptakteure vor einem internationalen Tribunal.
Nicht infrage dafür kommt vorläufig der Internationale Strafgerichtshof ICC. Dort ist Syrien gar nicht Mitglied. Und Russland, Assads Schutzpatron, verhinderte im UNO-Sicherheitsrat stets, dass der ICC mit der Strafverfolgung von Assad und Konsorten betraut wurde. Hingegen fanden bereits Prozesse gegen Assad-Schergen in Deutschland, Frankreich oder den Niederlanden statt. Manche Staaten sehen sich bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit grundsätzlich zuständig, egal wo sie verübt wurden.
Viel Beweismaterial vorhanden
Wo immer die Strippenzieher des Regimes vor die Gerichte kommen – viel Vorarbeit wurde bereits geleistet. Seit Jahren sammeln eine Ermittlungskommission der UNO und ein für Syrien eingerichtetes UNO-Organ mit Sitz in Genf Beweise.
Deren erste Chefin, die französische Richterin Catherine Marchi-Uhel, erklärt: «Je länger es dauert zwischen Tat und Prozess, umso grösser ist das Risiko, dass Beweise verloren gehen, vernichtet werden, Zeugen sterben oder sich nicht mehr erinnern. Dem gilt es vorzubeugen.» Eine Fülle an Beweismaterial ist also vorhanden.
Offen ist, wie vielen Haupttätern man habhaft wird. An Ex-Diktator Assad dürften die Gerichte nicht herankommen. Er fand Unterschlupf in Russland. Syriens neue Regierung machte zwar kürzlich deutlich, dass dessen Auslieferung zwar hohe Priorität habe. Doch den Schützling Assad nach Syrien auszuliefern, dürfte für den Kreml eine zu grosse Schmach sein und scheint vorläufig ausgeschlossen.