Zum Inhalt springen

Radikaler Sparkurs Mileis Argentinien: Wachsende Armut und Hoffen auf bessere Zeiten

Weniger Staat, mehr freier Markt – das ist das Motto von Javier Milei. Um die krisengeplagte Wirtschaft anzukurbeln, setzt Argentiniens ultraliberaler Präsident auf eine Schocktherapie: ein Mix aus Kürzungen, Entlassungen und Geldentwertung. Das führt zu immer mehr Armut.

Jeden Mittwoch protestieren sie vor dem argentinischen Parlament: die «jubilados insurgentes» – aufständische Rentner. Mit dabei: die 80-jährige Alicia. «Wir leben unterhalb der Armutsgrenze. Das ist unwürdig», sagt die aufgebrachte Seniorin.

Seit Javier Milei als Präsident in Argentinien regiert, haben die Renten an Kaufkraft verloren – wegen der Inflation und weil Milei nach seinem Amtsantritt den argentinischen Peso um die Hälfte entwertet hat. Als Reaktion hoben Ladenbesitzer die Preise an. Einkaufen ist also teurer, und das Geld weniger wert.

Von wegen «Ruhestand»

Besonders stark spüren das jene mit einer tiefen Rente, wie Alicia. Sie muss umgerechnet mit weniger als 250 Franken im Monat auskommen.

Geschenke für die Enkelkinder liegen kaum drin: «Das ist so gut wie unmöglich, selbst für Geburtstage. Schon nur eine anständige Jacke kostet schnell 100 Franken», sagt Alicia. Dabei habe sie doch jahrzehntelang hart gearbeitet in einer Schuhfabrik.

Der 71-jährige Víctor nickt: «Ich bin pensioniert und arbeite trotzdem weiter. Das Gesetz erlaubt es mir fünf Stunden pro Tag zu arbeiten, sechs Tage die Woche. Ich bin auf dieses zusätzliche Einkommen angewiesen, denn nur mit der Rente alleine käme ich nicht durch.»

Über die Hälfte lebt in Armut

Es sind nicht nur Seniorinnen und Senioren, die finanziell stark unter Druck sind: Die Armutsrate in Argentinien liegt inzwischen bei fast 60 Prozent. Das trifft auch Junge.

Graffiti mit wüster Beleidigung in Richtung Milei.
Legende: Die Wut der Menschen steigt: Graffiti mit wüsten Beleidigungen an Milei – wie hier vor dem argentinischen Parlament – sind derzeit keine Seltenheit in Buenos Aires. Teresa Delgado/SRF

Die 32-jährige Amparo Díaz war früher Sachbearbeiterin beim Arbeitsministerium mit einem Temporärvertrag. Solch prekäre Anstellungsverhältnisse sind in Argentinien häufig. «Im März sagten sie mir, mein Vertrag werde nicht verlängert. Die Mitteilung folgte per E-Mail um Mitternacht, am Osterwochenende. Ich hatte mich auf Zeit mit der Familie gefreut, stattdessen bekam ich Angst», sagt Amparo. Sie hat keinen Anspruch auf Arbeitslosengelder, weil die Nicht-Verlängerung eines Vertrags technisch gesehen keine Kündigung ist.

Die 32-jährige Amparo Díaz.
Legende: Die 32-jährige Amparo Díaz zeigt uns die E-Mail, mit der ihr Temporärvertrag aufgelöst wurde. Teresa Delgado/SRF

Die junge Frau versucht sich nun, mit Putzen und Kellnern über Wasser zu halten. Sie ist wie so viele Argentinierinnen und Argentinier in die Schattenwirtschaft abgerutscht. Diese ist unter Milei auf fast 45 Prozent gestiegen. Ohne finanzielle Unterstützung ihrer Eltern käme sie aber nicht durch, sagt Amparo. Trotzdem ist sie dankbar, überhaupt eine Arbeit zu haben. «Denn viele meiner ehemaligen Kollegen suchen noch. Eine Anstellung sollte kein Privileg sein, sondern ein Recht, aber unter diesen Umständen ist es ein Privileg.»

Kündigungswelle und Schattenwirtschaft

Amparo ist kein Einzelfall, sagt Mercedes Cabezas, Generalsekretärin der grössten Gewerkschaft für Staatsangestellte: «Seit Mileis Amtsantritt haben wird 365'000 arbeitslose Staatsangestellte in ganz Argentinien registriert.» Im ersten Halbjahr seiner Amtszeit halbierte der Präsident die Zahl der Ministerien von 18 auf neun. Und die Regierung gehe noch weiter: «Milei hat das Gesetz geändert. Er legalisiert immer prekäre Anstellungsbedingungen. Die Probezeit betrug früher zum Beispiel drei Monate in Argentinien, neu sind es ganze acht.»

Milei weiche auch den Kündigungsschutz auf, beklagt die Gewerkschafterin. Damit gefährde der Präsident die Zukunft Zehntausender argentinischer Arbeiterinnen und Arbeiter. Cabezas rechnet mit Zehntausenden weiteren Arbeitslosen in den nächsten Monaten.

Ich habe Milei gewählt, weil Argentinien einen radikalen Wandel braucht. Aber jetzt bezahle ich den Preis für diesen Wandel.
Autor: Mariano Meyer Argentinischer Unternehmer

Die Arbeitslosenrate ist um zwei Prozentpunkte gestiegen, auf 7.7 Prozent – das sind fast zwei Millionen der über 46 Millionen Argentinier. Doch Experten erwarten, dass die Arbeitslosigkeit in den nächsten Monaten noch weiter zunehmen wird. Denn auf die Hyperinflation folgt in Argentinien nun eine Rezession. Und die ausländischen Investoren, auf die Mileis Regierung hofft, lassen bisher noch auf sich warten.

Über Entlassungen nachdenken muss auch Mariano Meyer, Chef einer Metall-Zuschnitts-Firma. Der Unternehmer hat Milei gewählt, «aber mein Geschäft läuft schlechter, seit Milei im Amt ist». Milei habe er gewählt, weil das Land einen radikalen Wandel brauche. «Aber bis jetzt zahle ich nur den Preis für diesen Wandel, gebessert hat sich die Lage noch nicht», sagt Meyer. Wenn sich nicht bald etwas ändere, müsse auch er Leute entlassen, fürchtet der 40-Jährige.

Dass Amparo, Alicia und Víctor kaum noch über die Runden kommen, und selbst Unternehmer, wie Mariano Meyer über Entlassungen nachdenken müssen, tue ihm leid, sagt Nicolás Dárdik. Aber das Land erlebe jetzt nun einmal eine schmerzhafte Übergangsphase. «Das ist der Preis für die Transformation unseres Landes. Wir müssen unseren Gürtel enger schnallen und durchhalten», sagt Nicolás.

Durchhalteparolen statt Antworten

Der junge Aktivist von Mileis Partei «La Libertad Avanza» ist Anfang 20 und sein Vertrauen in Milei ist unerschütterlich. Mileis Schocktherapie sei die richtige Medizin für Argentiniens kranke Wirtschaft, sagt Nicolás. Schuld am Schlamassel seien die Vorgängerregierungen. Wann das Land endlich wieder gesund werde, wisse niemand.

«Milei sagt, die Zeit ist Sache Gottes», sagt Nicolás, «es wird dauern, diese Wirtschaftskrise zu überwinden. Es gibt leider keine schnelle Lösung», so der überzeugte Milei-Anhänger. Warten auf eine ungewisse Zukunft und durchhalten. Solche Worte sind ein schwacher Trost für Argentinier wie Alicia, Víctor und Amparo, die heute nicht wissen, wovon sie morgen leben sollen.

Rendez-Vous, 14.08.2024, 12:30 Uhr

Meistgelesene Artikel