Als zwei Bekannte von Anisja Kasljuk festgenommen wurden, die bei ihr zuvor untergekommen waren, schien es der Juristin gefährlich, länger in Minsk zu bleiben. Vor wenigen Wochen noch hätte sie es sich nicht vorstellen können, dass sie ausreisen würde aus Angst vor Repression.
Doch die Situation im Land hat sich für Anisja und viele exponierte Gegner des Autokraten Lukaschenko verschärft: «Ich habe Interviews geführt zur Beweisführung mit Folteropfern. Sie haben Schreckliches erzählt. Wie die Sicherheitskräfte Vergnügen daran gefunden hätten, sie zu misshandeln», erzählt Anisja. SRF konnte mit der Aktivistin in der ukrainischen Hauptstadt Kiew sprechen.
Eine Welle der Gewalt
Seit sie 16 Jahre als ist, kämpft sie gegen Menschenrechtsverletzungen in Weissrussland. Als Juristin arbeitet sie bei der Menschenrechtsorganisation «Viasna». Die Gewalt, die den friedlichen Demonstranten entgegenschlug, übersteigt alles, was das Land in seiner jüngeren Geschichte gesehen hat.
«Niemand war auf eine solche Brutalität vorbereitet. Einfach ein Meer von völlig unbegründeter Gewalt», schildert Anisja ihr Gefühl der Ohnmacht. «Ich habe gedacht, meine Arbeit hätte mich abgehärtet. Doch das Niveau an Hölle, welches wir uns zuvor gewohnt waren, ist nicht zu vergleichen mit dem, was in den Tagen nach der Wahl geschehen ist.»
Widerstand trotz Distanz
Schien es nach einer ersten Welle der Gewalt durch Polizei und Sondereinheiten in den vergangenen Tagen scheinbar ruhig zu werden, so war vielen Gegnern Lukaschenkos klar, dass eine zweite Welle der Repression bereits mitten im Gang war.
Auch Anisja hat damit gerechnet. «Die Repression kam zurück. Es gab erneut wieder viele Festnahmen, nachdem die meisten Gefangenen freigelassen wurden. Die Aktivisten unter ihnen hat man in den vergangenen Tage zu Hause abgeholt.» Auch nach ihrer Ausreise versucht sie weiter, sich einzusetzen. Und so berät Anisja nun via Internet Betroffene juristisch: «Vor allem aber helfe ich jenen bei der Ausreise, denen jetzt grosse Gefahr droht.»
Repression gegen Arbeiter
Auch Arbeiterinnen und Arbeiter, die sich in den vergangenen Wochen bei Streiks lautstark zu Wort gemeldet hatten, fühlten sich nicht mehr sicher im Land. Zu ihnen gehört Mechaniker Edward Swentitski. Erst vor wenigen Tagen floh er aus der weissrussischen Hauptstadt nach Warschau: «Ich habe 38 Jahre im Minsker Traktorenwerk gearbeitet. Nachdem ich bei den Streiks im Werk meine Meinung gesagt hatte, begann die Repression gegen mich.»
Er schildert gegenüber SRF: «Ich wollte mit meinem Auto zur Arbeit in das Traktorenwerk fahren und hatte mich kaum ins Fahrzeug gesetzt. Da kamen von zwei Seiten Unbekannte auf mich zu und wollten mich mitnehmen. Aber es gelang mir, davonzufahren.»
Exil auf unabsehbare Zeit
Aus Polen verfolgt Edward die Ereignisse in seiner Heimat über den Messengerdienst Telegram. Der Messengerdienst wurde zur wichtigsten Informationsquelle im und ausserhalb des Landes. «Die weissrussische Regierung hat niemandem etwas zu bieten. Nicht den Arbeitern. Nicht den Bürgern. Nur Gewalt und Angst.», ist Edward überzeugt. Nach den Ereignissen der vergangenen Wochen schien es ihm unmöglich zu schweigen: «Ich werde in Polen bleiben, solange dieses Regime regiert. Solange Lukaschenko, der sich selbst zum Präsidenten erklärt hat, nicht zurücktritt.»
Wie viele Menschen aus Weissrussland insgesamt nach Polen geflohen sind, ist nicht bekannt. Offiziell haben mehrere Dutzend Personen wie Edward politisches Asyl beantragt.