Seit mehr als einem Monat führt Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Tausende Zivilisten und Soldaten sind dabei umgekommen. Den angerichteten Schaden beziffert die ukrainische Seite auf mehr als eine halbe Billion Dollar. Immerhin: Jetzt sprechen Moskau und Kiew wieder miteinander – zuletzt am Dienstag in Istanbul.
Über die spezielle Rolle der Türkei zwischen dem Westen und Russland weiss der Türkei-Spezialist bei der Stiftung für Wissenschaft und Politik in Berlin, Günter Seufert, mehr.
SRF News: Warum übernimmt gerade die Türkei die Vermittlerrolle zwischen Moskau und Kiew?
Günter Seufert: Die Türkei betreibt eine interessante und ausgeglichene Politik: Sie gehört zur Nato, hat sich aber den Sanktionen gegen Russland nicht angeschlossen. Zudem hat sie sich bei der Abstimmung über den Ausschluss Russlands aus dem Menschenrechtsrat enthalten. Sie ist mit beiden Seiten vernetzt und bietet sich deshalb als Gesprächsort an.
Wie bewährt sich die Türkei bisher in diesem Balanceakt zwischen dem Westen und Russland?
Sehr erfolgreich. So kritisiert etwa die Nato die Türkei derzeit nicht für ihre Haltung – auch wenn einzelne Regierungschefs dabei ausscheren. Doch aus den USA, aus Frankreich oder Deutschland ist eine solche Mahnung an die Adresse Istanbuls bislang ausgeblieben. Wir sehen vielmehr, dass die Nato-Staaten versuchen, mit der Türkei sicherheitspolitisch wieder näher zusammenzuarbeiten.
Wie wichtig ist es für die Nato, diesen Gesprächskanal zwischen Moskau und Kiew via Türkei offenzuhalten?
Mehr als das geht es der Nato wohl darum, die Türkei langfristig fester im westlichen Lager zu halten. Nach dem gescheiterten Militärputsch 2016 in Ankara hat die Türkei ihre Fühler sehr konkret nach Moskau ausgestreckt und auch versucht, die Beziehungen zu China zu vertiefen.
Der Nato geht es wohl vor allem darum, die Türkei langfristig im westlichen Lager zu halten.
Seit dem Syrienkrieg – die USA unterstützen dort die Kurden in Nordsyrien und Irak, was Ankara gar nicht gerne sieht – entwickeln sich die Interessen zwischen der Türkei und den USA immer stärker auseinander. Die USA werden von den Türken inzwischen als die grösste Gefahr für die Sicherheit ihres Landes wahrgenommen. Diese Distanz versucht die Nato jetzt, ein Stück weit zu vermindern.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan sorgte im Westen in letzter Zeit für eher negative Schlagzeilen. Kann er sein Ansehen mit der Vermittlerrolle im Ukraine-Krieg jetzt etwas verbessern?
Wichtiger als die Vermittlerrolle ist wohl die Rolle des Partners in der westlichen Sicherheitspolitik. Im Westen ist man überzeugt, dass man nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine die europäische Sicherheitspolitik und -architektur neu denken und ausrichten muss.
Die Türkei spiel in der europäischen Sicherheitspolitik ein wichtige Rolle.
Da spielt die Türkei eine wichtige Rolle, deshalb ist der Westen auch an einer wirtschaftlichen Stabilität im Land interessiert – auch wenn das teilweise auf Kosten von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit in der Türkei gehen könnte.
Das Gespräch führte Christina Scheidegger.